Im Jahr 1980 wurde die geschlossene Unterbringung in der Heimerziehung in Hamburg abgeschafft. Und wenn seinerzeit von Heimen die Rede war, dann waren auch tatsächlich Heime gemeint mit geschlossenen Abteilungen mit vergitterten Fenstern, Zellen mit Kloschlüsseln und Gucklöchern in den Zellentüren. In dem Film “Bambule” von Ulrike Meinhoff kann diese Form des Wegsperrens noch gut betrachtet werden. Aus heutiger Sicht ist es unglaublich, wie damals mit Jugendlichen umgegangen wurde, wie unglaublich, erkenne ich immer an dem Unglauben von Studierenden der Sozialpädagogik, wenn ich mit ihnen diesen Film “Bambule” sehe. Weil der Film auch noch in Schwarz-Weiß gedreht ist, meinen einige, das Zustände im Dritten Reich beschrieben werden oder aus der Frühzeit der DDR, aber ganz gewiss nicht aus der Bundesrepublik Deutschland zu einer Zeit, in der sie gerade geboren wurden. Die Zeit ist offensichtlich über diese Form der Einsperrung hinweggeschritten, sie ist un-denkbar geworden. Daran besteht kein Zweifel, auch, wenn Jugendgefängnisse weiterhin bestehen, und teilweise immer noch mit alter baulicher Struktur. Der Symbolgehalt der Abschaffung dieser Einsperrung war in den 80er Jahren entsprechend beachtlich (Ehlers 2002,1)
Vor 1980 wurde nach drei Gesichtspunkten geschlossen untergebracht: einmal als gesicherte Unterbringung im Rahmen des Jugendwohlfahrtsgesetztes (das wurde ersatzlos abgeschafft), zweitens als einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Erziehungsheim zur Abwendung der Untersuchungshaft (noch heute Unterbringungen nach §§ 71/72 GG) sowie drittens als kurzfristige Sicherung aufgegriffener Kinder nach den Vorschriften zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (heute nach § 42 SGB VIII, also als Maßnahme in Ausübung des Wächteramtes). (vgl. Bittscheidt & Koch 1982,2)
Offizielles Ziel der Reform war es 1980, “die Aufgaben von Heimerziehung als Hilfsangebot zu klären und damit zugleich repressive, sanktionierende oder generalpräventive Funktionen auszugrenzen.” (Bittscheidt-Peters & Koch 1982,1). Und Hilfe im Wege der Einsperrung erschien nicht mehr möglich, die Verbindung von Einsperren und Hilfe war durch die Erfahrungen der Vergangenheit desavouiert. Die Hamburger Reform nahm damit das vorweg, was sich mehr als 10 Jahre später dann kodifiziert im SGB VIII wiederfindet: “Nach mehreren vergeblichen Anläufen ist es endlich gelungen, das in seinen Kernbereichen aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts stammende, noch wesentlich vom Eingriffsgedanken geprägte und heutigen fachlichen Anforderungen keineswegs mehr entsprechende Recht des Jugendwohlfahrtsgesetzes durch ein modernes Leistungsgesetz zu ersetzen.” (Hauck, Kommentar zum SGB VIII, Vorwort)
Auf dieser gesetzlichen Grundlage stehen wir heute: Nicht mehr vom Eingriffsgedanken geprägt, sondern einer Leistung verpflichtet, die im Achten Jugendbericht als “gelingendes Aufwachsen” bezeichnet wird. Folgerichtig hat der Gesetzgeber bei der heute als Leistung gedachten Heimerziehung nach § 34 SGB VIII Gesetzgeber auf Regelungen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen verzichtet.
Doch kann diese (Hilfe)Leistung manchmal nicht doch nur im Wege eines freiheitsentziehenden Eingriffs erbracht werden? Und hat diese neue Orientierung jemals den vollständigen Verzicht auf die Einsperrung bedeutet? Das ist mitnichten so gewesen, weder in Hamburg noch anderswo. Nur ist dieser Einschluss in der Regel nicht durch Mauern hergestellt (außer bei psychiatrischen Einweisungen), die wir anfassen (oder an denen wir rütteln) können. Es kann auch eine andere Form des Festhaltens geben. In Hamburg etwa gibt es zwei intensiv betreute Wohngruppen am Südring in Hamburg-Nord und am Hofschläger Weg in Bergedorf, jeweils mit drei Plätzen zur Vermeidung von Untersuchungshaft gemäß § 71(2) JGG sowie fünf Plätze für die Heimerziehung gemäß § 34 SGB VIII, also insgesamt 16 Plätze. Diese Angebote wurden nach den tragischen Ereignissen um die Ermordung des Tonndorfer Kaufmanns Dabelstein durch zwei Jugendliche im Sommer 1998 geschaffen. Die dort untergebrachten Jugendlichen werden rund um die Uhr intensiv betreut. Also nicht Mauern statt Menschen, vielleicht auch nicht Menschen statt Mauern, sondern vielleicht Mauern aus Menschen. Dies muss vorausgeschickt werden, um deutlich zu machen, dass – auch in der Jugendhilfe, und nicht nur im Jugendstrafrecht – der Übergang von der sozialpädagogischen Einwirkung (Hilfeleistung) zur freiheitseinschränkenden oder gar freiheitsberaubenden Maßnahmen auch nach der Einführung des KJHG fließend geblieben ist (vgl. Krölls 2002).
Es ist weiterhin festgehalten worden, wenn auch in einer dem Zeitgeist entsprechenden Form (Zeitgeist als objektiver Ausdruck der Geschichte, Hegel). Diese Form zeigt sich etwa an den Sprachregelungen zur geschlossenen Unterbringung. Ich nenne einige Beispiele, bundesweit zusammengesucht: “pädagogisch-betreute Intensivgruppe”; “individuelle Teilgeschlossenheit”; “intensiv-pädagogische Gruppe”; “individuell-geschlossene intensivtherapeutische Gruppe”; “teilgeschlossene Gruppe.” (Landesjugendamt Saarland 2001) Heute soll offensichtlich nicht mehr in die gewalttätigen Einrichtungen früherer Zeiten eingesperrt werden, sondern nun sind es freundliche geschlossene Systeme, in denen positive Beziehungen hergestellt werden – sollen. Dabei muss jedoch die bislang in der Jugendhilfe durchgängig als schädlich bewertete Verbindung von Hilfe und Strafe (denn wie anders als Strafe kann die Einsperrung von den Eingesperrten aufgefasst werden?) notwendig wieder zum Leben erweckt werden. Diese Verbindung ist die Grundvoraussetzung jeglicher Argumentation für geschlossene Unterbringung. In der einschlägigen Hamburger Senatsdrucksache ist entsprechend eindeutig formuliert: “Das Konzept der geschlossenen Unterbringung verbindet Sicherungsnotwendigkeiten mit modernen Grundsätzen erzieherischer Betreuung.” (FHH 2002,5). Es sind also offensichtlich die “modernen Grundsätze erzieherischer Betreuung”, die die Freundlichkeit des Systems erzeugen soll. Wie nun wird dieses “freundliche System” von behördlicher Seite beschrieben und eingeführt? Unter dem Absatz “Geschlossene Unterbringung für Kinder” klingt es folgendermaßen:
“Neben einem strukturieren Tagesablauf und verbindlichen Regeln benötigen die Kinder intensive Beziehungen zu ihren Betreuern und einfühlende Zuwendung. In einem familienähnlichen Rahmen ist der Aufbau einer verlässlichen und stabilen Beziehung zwischen Betreuer und Kind deshalb ein zentrales Element der pädagogischen Konzeption der Einrichtung. Damit sich die Kinder dem Beziehungsangebot nicht entziehen können, kann zu Beginn der Unterbringung eine geschlossene Phase stehen. Zur Aufarbeitung ihres bisherigen Lebens besteht des Weiteren die Möglichkeit, therapeutische Angebote in Anspruch zu nehmen. Auch wenn der Lebensort der Kinder nicht mehr ihre Familie ist, gehört in diesem Kontext eine intensive Elternarbeit, um den Kindern in geeigneten Fällen eine Rückkehr in die Familie zu ermöglichen. Die schulische Bildung ist ein weiteres zentrales Element der Einrichtung. (…) Insgesamt zielt das pädagogische Konzept auf eine nachholende Erziehung.” (FHH 2002,7)
Das klingt in der Tat erzieherisch-freundlich. Mein Argument lautet dagegen, dass diese “freundlichen geschlossenen Systeme” so freundlich nicht sein können, da sie nun einmal Einrichtungen zum Einsperren sind und bleiben, ja vor allem: genau so gedacht und konzipiert werden. An diesem Faktum ist nun einmal nicht zu rütteln. Und die Einsperrung kann niemals die Dienerin der Pädagogik sein oder werden, wie Vertreter dieser “freundlichen geschlossenen Systeme” behaupten. Sondern die Einsperrung wird mit steter Regelmäßigkeit zur Herrin eben dieser Pädagogik. Und nicht nur die Zöglinge, auch die Erziehenden müssen sich dem Zwang der Einsperrung knechtisch unterwerfen. Das Faktum der Einsperrung beherrscht, dominiert, strukturiert und steuert die Interaktion und damit das wechselseitige Verhalten der Erzieher und der Zöglinge. Diese Feststellung ist ausgesprochen banal, und sie ist so sehr berufliches Wissen von Pädagogen, ein Wissen zudem, welches durch wissenschaftlich-empirische Studien seit Jahrzehnen abgesichert ist, dass es peinlich ist, diese Feststellung auch nur aufzuschreiben.
Die peinliche Notwendigkeit zur Äußerung dieser Banalität ist jedoch nur Ausdruck und Folge des peinlichen blinden Flecks von Vertretern der geschlossenen Unterbringung, die das komplizierte Wechselverhältnis von Zwang (zumal physischen Zwang) und Pädagogik nur in die schlichte Richtung einer Zugriffspädagogik denken: Ich muss ihn oder sie haben, damit ich erziehen kann. Jemanden mit einer repressiven Maßnahme zu haben (seiner habhaft zu werden) heißt aber noch lange nicht, bei ihm als Pädagoge zu sein. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Pädagogik unter repressiven Bedingungen nicht stattfinden kann. Pädagogik ist Erziehung und setzt als solche an der Entwicklungstatsache an. Pädagogik ist die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache, um eine bekannte Formulierung von Bernfeld zu bemühen. Sie ist Anleitung zum Lernen. Es ist damit nicht festgelegt, wie im Anschluss an die Erziehungstatsache mit der Anleitung zum Lernen umgegangen werden soll. Also mag auch dies Pädagogik sein. Doch es ist eine geknechtete Pädagogik unter der Herrschaft der Einsperrung.
Daher war die eingangs geschilderte Abschaffung der geschlossenen Unterbringung in Hamburg nicht nur die Abschaffung der Einsperrung von Kindern und Jugendlichen, sondern zugleich auch die Abschaffung der Knechtung der Pädagogik und der Pädagogen. Denn der Gewinn durch das Habhaft-Werden der Zöglinge ist nur ein trügerische Gewinn, der um den Preis der Unterwerfung unter ein geschlossenes System und seine Folgen erkauft werden muss. Um es in der heutigen modischen Sprache zu sagen: geschlossene Unterbringung ist keine “win-win situation”, sondern eine Situation, in der alle Beteiligten verlieren.
Warum also Jugendliche und auch Kinder geschlossen unterbringen? Die Antwort darauf ist einfach: weil es politisch und nicht pädagogisch opportun ist. Es ist gesteigert peinlich, wenn sich Pädagogen gleich doppelt unterwerfen: nicht nur gestatten sie ihre Knechtung als Professionelle unter das Diktat der Einsperrung, sondern zugleich unterwerfen sie sich auch als Staatsbürger unter das Primat der (Ordnungs)Politik.
Welches ist die Kritik der Vertreter dieser freundlichen geschlossenen Systeme an den Gegnern der Einsperrung in jeglicher Form? Ich will diese Argumente aufgreifen und diskutieren.
Argument 1: Das Festhalten an der Lebensweltorientierung wird zugespitzten Krisen- und Grenzsituationen nicht gerecht. (Enquete, 238) Argumentiert wird folgendermaßen: “Bei der Frage nach einer verbindlichen Unterbringung geht es nicht darum, eine größere Anzahl schwieriger Kinder wegzuschließen. Eine solche Forderung, sofern sie überhaupt erhoben wird, ist aus fachlich-inhaltlichen Gründen nicht vertretbar und deshalb zurückzuweisen. Zu klären ist vielmehr, ob in jedem noch so extremen Einzelfall, in massiv zugespitzten, langanhaltenden Krisen- und Gefährdungssituationen auf eine verbindliche Unterbringung verzichtet werden kann. Das ist die Grundsatzentscheidung, zu der Stellung genommen erden muss.” (Enquete,234)
Argument 2: Es handelt ich in erster Linie um keine fachliche, sondern um eine politische Frage (Enquete,234)
Argument 3: In den Einrichtungen mit verbindlicher Unterbringung ist ein stark gewandeltes Selbstverständnis zu finden (Enquete,235)
Argument 4: Es gibt überhaupt keine geschlossene Unterbringung mehr. Sondern das Prinzip der individuellen Geschlossenheit bedeutet, dass die aufgenommenen Jugendlichen die Einrichtung für einen überschaubaren Zeitraum nicht verlassen dürfen. Dieser Zeitraum variiert, “je nach dem Einzelfall, zwischen wenigen Wochen und einigen Monaten. Schnellstmöglich wird die Geschlossenheit gelockert, so dass die allermeisten Jugendlichen nicht über die gesamte Aufenthaltsdauer geschlossen untergebracht sind. Ein Übergang in eine offene Wohngruppe ist häufig möglich.” (Enquete,236)
“Das ehemals geschlossene System hat sich längst zu einer zeitweisen individuellen Geschlossenheit gewandelt, mit längeren Aufenthaltsdauern, die sich aus dem pädagogisch-therapeutischen Selbstverständnis dieser Einrichtungen ergeben. Verlängerte Aufenthaltsdauern sind auch dadurch vertretbar, dass eine Freiheitsbeschränkung nur einen Teil der gesamten Aufenthaltsdauer ausmacht” (Enquete,238)
Argument 5: Der Verzicht auf verbindliche (geschlossene) Unterbringung bedeutet ein Ausweichen von Konflikten (Enquete,236)
Argument 6: Es ist eine Unterstellung, dass MitarbeiterInnen in der Jugendhilfe Abschiebungswünsche haben und die geschlossene Unterbringung diesen entgegenkomme. Diese Sichtweise drücke ein tiefes Misstrauen gegenüber deren Arbeit aus und unterstellt, “dass ein fachlich kompetenter, verantwortlicher Umgang mit Kindern und Jugendlichen in Krisen- und Grenzsituationen nur in sehr fragiler, wenig verlässlicher Form erfolgt. Sobald sich eine äußere Möglichkeit zur Abschiebung ergibt, würden Verantwortung und Engagement leichtfertig aufgegeben.” (Enquete,238)
“Festzuhalten bleibt: Die heutigen Einrichtungen mit einer verbindlichen Unterbringung sind als pädagogisch-therapeutische Intensivabteilungen zu charakterisieren. Sie stellen bei guter Ausstattung und sorgfältiger Indikation ein ethisch verantwortbares, pädagogisch wirksames Hilfsmittel dar, das dringend benötigte Betreuungs- und Erziehungsaufgaben auch dann noch übernehmen kann, wenn dies anderswo nicht mehr möglich ist. Die Bedeutung einer zeitweise Freiheitseinschränkung wird dabei nicht leichtfertig unterschätzt. Sie ist aber den zerstörerischen Folgen gegenüberzustellen, die sich aus extrem schädigenden Lebensrealitäten für Kinder und Jugendliche ergeben, wenn ihnen – wie bisher noch in Hamburg – notwendige und mögliche Hilfen verweigert werden.” (Enquete-Kommission Jugendkriminalität 2000,238)