Interview mit dem Diplom-Pädagogen Werner Schipmann vom Bundesverband privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe (VPK) | erschienen in: Menschen – Das Magazin 2 / 2007
Herr Schipmann, warum verzichten die Mitglieder Ihres Verbandes auf geschlossene Einrichtungen?
Wir haben uns klar gegen die geschlossene Unterbringung (GU) ausgesprochen – und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen ist die geschlossene Unterbringung rechtlich überaus problematisch; zum anderen ist nach unserer Auffassung die GU ein fachlicher Offenbarungseid. Der fachlich-pädagogische Schwerpunkt unserer Mitglieder liegt in der erfolgreichen erzieherischen Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen.
Kann man denn wirklich alle Jugendlichen durch pädagogische Maßnahmen erreichen?
Es gibt so gut wie kein Kind und keinen Jugendlichen, der auf ernsthafte Beziehungsangebote nicht positiv reagiert. Die Kinder und Jugendlichen, die so große Probleme haben, dass bei ihnen über geschlossene Maßnahmen nachgedacht wird, wurden in ihren Familien und häufig auch in ihrem sonstigen sozialen Umfeld immer wieder massiv enttäuscht; oft haben sie niemals verlässliche Beziehungen erfahren. Sie alle sind aber auf der Beziehungsebene ansprechbar. Um sie zu erreichen, ist jedoch deutlich größere Mühe und mehr Zeit nötig, was entsprechend kostenintensiv ist.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Heimen mit geschlossenen Gruppen sagen, dass auch sie genau diese Beziehungsarbeit leisten.
Jugendhilfe ist auf Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ein freiwilliges Angebot. Sie soll junge Menschen in ihrer Entwicklung fördern und sie zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfördernden Persönlichkeit erziehen. Jugendhilfe hat keinen Straf- oder Strafersatzcharakter. Um nun keinen falschen Eindruck zu erwecken: Das heißt nicht, dass in offenen Heimeinrichtungen keine klaren und teils auch enge Grenzen gesetzt werden – das gehört selbstverständlich auch dort zum pädagogischen Auftrag. Auch dort gibt es verbindliche Regeln und Absprachen, an die sich jeder zu halten hat, ansonsten könnte kein Gemeinwesen funktionieren. Die in den 70er-Jahren manchenorts favorisierte Summerhill-Pädagogik mit ihrem hohen Maß an Freiwilligkeit oder auch ein anti-autoritärer Erziehungsstil nach Adorno sind sicher gesellschaftlich nicht realistisch. Das kann man zwar bedauern – um die Feststellung kommt man aber nicht herum.
Viele Erzieher und Jugendämter sagen: Es gibt eine begrenzte Zahl von Kindern und Jugendlichen, bei denen kommen wir anders nicht weiter.
Das ist in Einzelfällen durchaus nicht auszuschließen. Die Gründe dafür liegen aber eher darin, dass Hilfeleistungen zu spät eingesetzt haben. Dann haben sie in der Tat keine wirkliche Chance. Aber viele vorbeugende, freiwillige Angebote existieren flächendeckend schon nicht mehr oder werden weiter abgebaut. Aus Kostengründen werden heute Hilfen, insbesondere auch teure Hilfen, hinausgezögert oder gar nicht mehr gezahlt.
Das bedeutet aber: Wenn Hilfen früh genug und richtig einsetzen, dann kann man allen Kinder und Jugendlichen helfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen?
Sicherlich gibt es eine überschaubare Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die derzeit mit den klassischen Interventionen der Jugendhilfe nicht zu erreichen sind. Für diese Jugendlichen werden ganz individuelle, nach einem Baukastensystem zusammengesetzte Hilfe-Module benötigt, die aber deutlich teurer sind als die üblichen Angebote. Dafür brauchen Sie deutlich mehr Personal, um zum Beispiel in sehr kleinen Gruppen oder auch in Einzelbetreuung zu arbeiten. Dafür müssen die Erzieher und Sozialpädagoginnen außerdem zusätzlich qualifiziert und fortgebildet werden. Es kann jedenfalls nicht angehen, dass Erzieherinnen und Erzieher sagen: ,Es geht mit diesem Jugendlichen nicht mehr!‘ und dann wird dieser Jugendliche im Regen stehen gelassen und er oder sie wird in eine geschlossene Unterbringung verlegt. Ein individuelles Hilfekonzept kann es aber nicht für 150 Euro am Tag geben.
Unterbringung in geschlossenen Gruppen zum Beispiel ist wesentlich teurer.
Das ist sie. Aber das Verrückte dabei ist, dass, wenn ein Kind sozusagen in den Brunnen gefallen ist, die Schatulle plötzlich geöffnet wird. Eine geschlossene Unterbringung kann dann am Tag zwischen 300 bis 400 Euro kosten. In klassischen Einrichtungen entstehen im Schnitt nur um die 130 Euro an Kosten pro Tag. Wenn aber beispielsweise in den Medien Fälle von 15-jährigen „Intensivtätern“ hochgekocht werden, wird in Stammtischmanier der Ruf nach einem Wegschließen laut. Und dann spielt Geld plötzlich keine Rolle mehr. Aber nicht, um mit den Kindern und Jugendlichen pädagogisch zu arbeiten, sondern um vor ihnen geschützt zu werden. Wenn eine Gesellschaft sich krisenhaft entwickelt, dann wird der Ruf nach Recht und Ordnung lauter, auch in der Kinder- und Jugendhilfe. Diese Situation ist derzeit in Deutschland zweifelsohne wieder gegeben.
Heimleiter und auch Erzieher sagen jedoch, dass manche Kinder und Jugendliche erst in den geschlossenen Gruppen wieder lernen, sich an Regeln zu halten und ihr Leben zu organisieren.
Ich kann Ihnen, wenn es sein muss, jedes Angebot als pädagogisch wertvoll verkaufen – das ist eine Frage von geschickter Rhetorik. Im Übrigen ist meine Befürchtung, dass die Hemmschwelle für den Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen insgesamt sinkt. Heute ist es nur eine Handvoll, morgen sind es vielleicht schon mehrere Hundert, die von einer solchen geschlossenen Intervention betroffen wären. Die Frage ist doch auch, was unter „Erfolg“ verstanden wird. Sich vorübergehend „angepasst“ zu verhalten, ist für mich noch kein Erfolg. Von Erfolg lässt sich nur dann sprechen, wenn ein Jugendlicher dauerhaft erkannt hat, wie er eigenverantwortlich sein Leben gestalten kann. Und noch etwas: Nach meiner Kenntnis sind Entweichungen aus geschlossenen Maßnahmen wie auch die Rückfallquoten nicht gerade niedrig. Konkrete Zahlen gibt es hierzu nicht. Die wenigen empirischen Untersuchungen jedenfalls liefern keine Gründe, die für die GU sprechen. GU verdeckt die entscheidende Frage, warum ein Jugendlicher sich so und nicht anders entwickelt hat. In dieser Frage liegt eben eine gesellschaftliche Mitverantwortung. Wenn jemandem keine Chance auf ein normales Leben geboten wird, auf Ausbildung oder Job, dann muss Hilfe und Unterstützung einsetzen und nicht Strafe.