Überlegungen zu Organisation, Grundsätzen und Verfahren zur Vermeidung von Geschlossener Unterbringung in Hamburg
Prof. Dr. Michael Lindenberg und Prof. Dr. Tilman Lutz, Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie für das Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung, Oktober 2013
Ausgangsüberlegung: keine neue Hilfeform im Vorfeld der Geschlossenen Unterbringung
Bei unseren Überlegungen lassen wir uns von zwei Grundgedanken leiten: Erstens, die Verantwortung für Kinder und Jungendliche, bei denen eine Geschlossene Unterbringung erwogen wird, bleibt nicht nur hinsichtlich der Beantragung und Bewilligung, sondern auch im Blick auf die Durchführung der Hilfe in der Verantwortung der Stadt Hamburg. Zweitens, die zweifellos vorhandene Last dieser Verantwortung wird auf mehrere Schultern, d.h. Akteure und Träger verteilt.
Auf dieser Grundlage kann es eine Alternative zur Geschlossenen Unterbringung nicht in dem Sinne geben, eine weitere oder neue Hilfe im Vorfeld der Geschlossenen Unterbringung auf die Perlenkette der erzieherischen Hilfen aufzuziehen, die dann die Geschlossene Unterbringung verhindert. Dieses Denken in Organisationen führt nicht zu einer Alternative, sondern nach unserer Überzeugung lediglich zu einer Ausweitung der Hilfen und dann für viele junge Menschen doch in die Geschlossene Unterbringung, möglicherweise mit einer gewissen Zeitverzögerung. Entsprechend orientieren wir unseren Verfahrensvorschlag, nicht zuletzt aus Respekt vor den Kollegen und Kolleginnen, die in den Erziehungshilfen täglich in der Arbeit mit Jugendlichen stehen und es viel besser wissen als wir, auch nicht an Vorschlägen zur Ausgestaltung der Hilfen selbst. Das steht uns nicht zu, aber Verfahrensüberlegungen für den Fall, dass ein Hamburger Familiengericht eine Geschlossene Unterbringung genehmigt hat bzw. das zuständige Jugendamt oder die Personensorgeberechtigten dies beantragen, wollen wir mit folgenden Anregungen zum weiteren Nachdenken beitragen:
Überlegungen zur Organisation eines Kooperationspools “Familienrechtliche Geschlossene Unterbringen in Hamburg”
1. Der Kooperationspool ist ein Netzwerk von Trägern Erzieherischer Hilfen, für die ihre Mitgliedschaft in diesem Pool mit keinen Einschränkungen ihrer Trägerautonomie verbunden ist. Somit handelt es sich bei diesem Kooperationspool um einen losen Verbund von Hamburger Trägern der Jugendhilfe, die unter Wahrung ihrer fachlichen und wirtschaftlichen Eigenständigkeit entscheiden können, bei diesen Jugendlichen ein Angebot zu erwägen, das sie dann auch verbindlich und verlässlich gewährleisten, um keine weiteren Beziehungsabbrüche und Verlegungserfahrungen zu produzieren.
2. Eine gesonderte Organisation bzw. zusätzliche Einrichtung ist daher weder erforderlich noch hilfreich, geschaffen werden muss lediglich ein geregeltes Verfahren für alle an dem Kooperationspool beteiligten Träger sowie das zuständige Jugendamt.
3. Dieser Kooperationspool wird im Bewusstsein darum geschaffen, dass in den hier in Rede stehenden Fällen in der Regel (jedoch nicht immer) bereits viele Hilfen versucht wurden und daher die fachliche Verantwortung besonders groß ist und deshalb als eine geteilte fachliche Verantwortung getragen werden sollte.
Überlegungen zu Grundsätzen dieses Kooperationspools
4. Dieses Angebot wird auf sozialpädagogischen / sozialarbeiterischen Grundlagen daran orientiert, dass die Möglichkeit der Geschlossenen Unterbringung zwar rechtlich möglich ist, fachlich jedoch ausgeschlossen werden soll.
5. Daher verständigen sich die Kooperationspartner über Standards, wie mit die-sem Grundsatz umzugehen ist. Es handelt sich regelhaft um eine intensivpädagogische individuelle Hilfe, deren Ausgestaltung mit den Beteiligten entsprechend § 36 (2) SGB VIII ausgehandelt und in einem Hilfeplan festgeschrieben wird. Fester Bestandteil ist das Angebot der regelmäßigen supervisorischen Begleitung der durchführenden Fachkräfte sowie deren Beratung durch den Kooperationspool.
6. Die Einschaltung dieses Pools soll auch gewährleisten, dass die erzieherischen Gesichtspunkte des SGB VIII weiter im Vordergrund stehen und dieser Fall nicht unter dem polizeilichen Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr, sondern unter dem sozialpädagogischen Gesichtspunkt der individuellen Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII sowie der Prinzipien aus § 1 SGB VIII betrachtet wird.
Überlegungen zum Verfahren dieses Kooperationspools
7. Spätestens bei der Beantragung eines Beschlusses nach 1631b BGB legt das jeweilige Jugendamt in Absprache mit den Personensorgeberechtigten diesen Fall regelhaft dem Kooperationspool “Familienrechtliche Geschlossene Unterbringung” vor.
8. Sobald der Fall vorliegt, ruft der jeweils federführende Träger (die Federführung wechselt nach jedem Fall) gemeinsam mit der fallzuständigen Fachkraft alle beteiligten Träger sowie (ggf. zu gesonderten Terminen) den betreffenden jungen Menschen, die Personensorgeberechtigten und weitere zentrale Akteure kurzfristig zu einem Treffen des Kooperationspools.
9. In diesen Treffen wird entschieden, welcher Träger mit welchen Mitteln diesen Fall selbstständig oder in Kooperation mit einem anderen Träger übernimmt. Auch eine Ablehnung des Falls muß möglich sein.
10. Im Kooperationspool wird der Fall gemeinsam beurteilt. Im zweiten Schritt werden in einer Hilfeplankonferenz ein oder mehrere Träger aus diesem Pool heraus beauftragt.
11. Die konkrete Arbeit in den Einzelfällen wird im Wege eines Hilfeplanes mit Beteiligung des zuständigen Jugendamtes, der durchführenden Fachkräfte sowie des jungen Menschen und ggf. weiterer Akteure festgelegt. Er ist daher nicht in besonderer Weise zeitlich begrenzt (etwa: drei Monate), da es sich in der Durchführung um eine übliche Maßnahme der erzieherischen Hilfen handelt. Lediglich das Zustandekommen wird über den Kooperationspool gesteuert. Durch den Verzicht auf eine zeitliche Begrenzung soll verhindert werden, dass die Hilfe als Sonderhilfe betrachtet und mit der Drohung der Geschlossenen Unterbringung gearbeitet wird.