Freistatt

Der vierzehnjährige Wolfgang ist “unbequem und lästig”. Die Lösung des Stiefvaters: Erziehungsheim, genauer: die kirchliche Fürsorgenanstalt Freistatt südlich von Bremen. So geschehen 1968 – in der Zeit von Rock’n’Roll und Studentenrevolte. Dieses Themas hat sich jetzt der Regisseur Marc Brummund angenommen. “Freistatt” erzählt anhand der privaten Geschichte von Wolfgang Rosenkötter, der hier “Zögling” war, was über einer halben Million Kindern angetan wurde – in kirchlichen und staatlichen Heimen der Bundesrepublik, bis Anfang der 70er-Jahre.

Die Diakonie Freistatt in Niedersachsen galt als eine der härtesten Einrichtungen und als Endstation vieler Heimkarrieren: Statt Schule Torfabbau, statt Fürsorge den Willen brechen, systematisch, sechs Tage die Woche, morgens bis abends: “Man musste in den ersten drei Monaten Holzstiefel tragen, dass man nicht weglaufen konnte”, erinnert sich Rosenkötter. “Es war besonders schwer, damit zu arbeiten, denn das Moor hat einen runtergezogen. Aber man wurde immer wieder angetrieben von den Erziehern.” Eine Flucht durch die Moorlandschaft war fast unmöglich. Völlig abgeschieden liegt dieser Ort: Was hier passiert ist, hat kaum einer mitbekommen.

Überwachung und Gewalt gehörten zum Alltag

Der christliche “Bruder”, wie man Autoritäten zu nennen hatte, überwachte die Jungen auch nachts durchs Fenster. Totale Kontrolle, Ausbeutung und Misshandlung – das Erbe des Nationalsozialismus? Der Film zeigt auch, wie so ein System funktioniert, das die Jugendlichen dazu bringt, sich auch noch gegenseitig zu quälen.

Für Wolfgang Rosenkötter war es wichtig, bei den Dreharbeiten am Originalschauplatz dabei zu sein. Vierzig Jahre war er nicht in der Lage, über diese Zeit zu sprechen. Mit dem Filmdreh erlebt er sie erneut: “Man ist wieder der Junge von früher. Das macht Schmerzen, auch körperliche”, sagt er. Und er erzählt vom morgendlichen Aufstellen, ständigen Kommandos, kleinen physischen und psychischen Demütigungen, schwerer Arbeit, ständigem Schlagen. Und von der Angst, die immer da war, vom ersten bis zum letzten Tag.

Langes Schweigen über Misshandlungen

Öffentlich wurden die Misshandlungen im Heim erst vierzig Jahre später: Das Buch “Schläge im Namen des Herrn” des Journalisten Peter Wensierski brachte das Thema 2006 erstmals an die Öffentlichkeit. Was folgte, war ein runder Tisch des Deutschen Bundestages und leider eine für die Opfer kaum befriedigende Entschädigung.

Die Nähe zu seinem Geburtsort Diepholz motivierte Marc Brummund zu seinem Film über den Missbrauch im Heim “Freistatt”. Die Diakonie unterstützte ihn. Die Aufarbeitung dort sei vorbildlich, sagt er.

Seitdem hat auch Regisseur Marc Brummund dieses Thema nicht mehr losgelassen. Er hatte nie zuvor von Freistatt gehört, obwohl er nur wenige Kilometer vom Heim entfernt aufgewachsen ist. Wo kurz zuvor ein Arbeitslager für Jugendliche war, hat er selbst als Kind Moorwanderungen gemacht. Die Vorstellung, dass es vielen Kindern und Jugendlichen zur selben Zeit ganz anders erging als ihm selbst, hat ihn bewegt. So begann er zu recherchieren: “Da wurde untereinander aufgepasst. Es gab Vertrauensjungen für die Erzieher, die geschnüffelt haben, wenn sich zwei Jungs zu sehr angefreundet haben. So ist gar keine Nähe entstanden. Das führte zusätzlich zu der physischen Härte noch zu einer psychischen Verrohung.”

“Freistatt” ist ein Film, der klar macht, warum es wichtig ist, dieses traurige Kapitel unserer jüngeren Geschichte endlich vollständig aufzuklären – nicht nur für die mehr als 600.000 ehemaligen Heimkinder. Wolfgang Rosenkötter baut heute in Freistatt ein Dokumentationszentrum auf, damit die Geschichte nicht vergessen wird.

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