„Das kenne ich – genau das habe ich auch erlebt – allerdings vor 50 Jahren!“
Das war die spontane Reaktion unseres Mitglieds Wolfgang Rosenkötter, als er die Berichte über die erniedrigenden und gewalttätigen Praktiken in den Einrichtungen in Dörpling und Rimmelsberg hörte. ( z.B. Spiegel 30.04.16, HA 3.5.16, TAZ 4.5.16). Kontakt- und Besuchsverbote, Telefon- und Postüberwachung, Ausgehverbote und Essensentzug, körperliche Gewalt, um Gehorsam zu erzwingen, Taschengeldentzug, entwürdigende Punktesysteme sowie beleidigende Provokationen erlebte er in der Erziehungsseinsrichtung Freistatt (der preisgekrönte Film „Freistatt“ basiert auf seinen Erlebnissen) – und es gibt sie offensichtlich auch noch heute. Die Haasenburg, der Schönhof und der Friesenhof und jetzt Dörpling und Rimmelsberg zeigen deutlich an, dass es sich nicht um Einzelfälle ‚verfehlter Praxis‘ handelt, sondern um die Spitze eines Eisberges.
Sicher hat sich seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts einiges verändert, jedoch erleben wir seit den 90er Jahren in Teilen der Fachwelt einen breiteren Rollback. Von diesen Teilen wird öffentlich das Ende einer angeblichen Kuschelpädagogik gefordert, konfrontative Pädagogik wird zu einem fachlich beliebten Stichwort und das „Lob der Disziplin“ erlebt Auflage um Auflage. Bereits tote Begriffe werden wieder belebt: „Verwahrlosung“, „Norm- und Orientierungslosigkeit“, „steigende Delinquenz und Kriminalität, vor allem Gewalttätigkeit“ – all dieses, so behaupten zunehmend mehr Einrichtungen der Heimerziehung, kann durch einen klar geregelten Stufen- oder Phasenvollzug eingedämmt werden.
Solche Phasen beginnen mit den oben genannten strikten Ver- und Geboten, um dann „Freiheiten“ und „Privilegien“ zu gewähren. Damit werden durch quasi-pädagogische Gründe die Rechte genommen, die Kindern und Jugendlichen in einem Rechtsstaat zustehen. Und wenn es mit dem durch diese Dressur erreichten Verhalten nicht im Sinne der Einrichtung klappt, werden die jungen Menschen wieder zurückgestuft.
Klaus Tischler, Sprecher des Verbandes Privater Einrichtungen in Schleswig Holstein, erläutert das in einer an Orwells „Neusprech“ erinnernden verharmlosenden Redeweise: „In aller Regel werden die Jugendlichen (… ) bestimmte Phasen durchlaufen, denen abgestufte Betreuungssettings entsprechen müssen (…) Man muss ihnen vieles buchstäblich zeigen – Regelmäßigkeit, Hygiene, sich Abgrenzen und Konflikte lösen, ohne Gewalt zu üben, wie man sich bedankt, jemandem so etwas wie Wertschätzung oder Sympathie zeigt, etwas teilen usw.(…) Ein Stufensystem von erreichbaren Privilegien (zum Beispiel Zimmerwahl und-Ausstattung, begehrte Aktivitäten, Einkaufsmöglichkeiten etc.) kann motivieren(…) Hat sich die Gewöhnung mit ausreichender Verlässlichkeit stabilisiert ist die nächste Phase, der Übergang in eine ‚offene‘ Gruppe vorsichtig anzugehen“ (Tischler 2010, S. 53-55). Was sich so harmlos und scheinbar einleuchtend anhört, führt in der Praxis zu den geschilderten Repressionen und damit zu Verletzungen der UN-Kinderrechtskonvention, die jungen Menschen ein grundlegendes Mitspracherecht in allen sie angehenden Angelegenheiten garantiert.
Junge Menschen kann man nicht wie Ratten oder Hunde dressieren, schon gar nicht zur Mündigkeit. Dieser Widerspruch ist nicht zu lösen. Deshalb sind Praktiken des Stufen- und Phasenvollzuges ersatzlos abzuschaffen. Eine Praxis, die der Kinderrechtskonvention entspricht, kann sich in folgendem Rahmen entfalten: „Das sind: ein bottom-up-Prozess zur Schaffung von Voraussetzungen für Beteiligung; eine pädagogischen Grundhaltung des Personals, welche zu einem ‚Beteiligungsklima‘ in einer Einrichtung beiträgt; einer konzeptionellen Festschreibung institutioneller Rahmenbedingungen; das Recht auf Seiten der Kinder und Jugendlichen zu einer eigenen Definition dessen, was Qualität und Qualität der Beteiligung in einem Heim ausmacht“ (Kerber-Ganse 2009, S. 208).
Das Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung fordert deshalb die politisch und fachlich zuständigen Stellen und Gremien auf, keine Einrichtung nach §§ 34 und 35 mehr zu genehmigen, die derartige Stufenvollzügen vorsieht, bzw. diese zu beenden. Damit wird auch die Praxis derjenigen Einrichtungen unterstützt und gestärkt, die zusammen mit Eltern und Kindern gelingendere Formen des Zusammenlebens entwickeln: „Kinder und Erwachsene lernen am besten von sich aus, aus eigenem Antrieb und Interesse, motiviert durch ihren Forschergeist. Dieser wird genährt durch die Erfahrung, selbst etwas zu bewirken zu können… Sie lernen am besten im Tun und in emotional positiven Situationen, Kinder und Erwachsene lernen mit und von Kindern, mit und von Erwachsenen, die ihnen sympathisch und wertschätzend gegenüber sind… Dazu gehört auch die ehrliche Rückmeldung zu ihrem Handeln. Kinder und Erwachsene müssen und dürfen Fehler machen, um zu lernen. Regeln entstehen durch Aushandlung“ (Verband Sozialpädagogischer Projekte e.V. – VSP – Dresden 2014).
Literaturhinweise
AG der IGfH (2013): Argumente gegen Geschlossene Unterbringung und Zwang in den Hilfen zur Erziehung. Regensburg
Bueb, Bernhard (2006): Lob der Disziplin
Kerber-Ganse, Waltraud (2009): Die Menschenrechte des Kindes. Die UN-Kinderrechtskonvention und die Pädagogik von Janusz Korczak. Versuch einer Perspektivenverschränkung. Opladen/Farmington Hills
Kunstreich, Timm/Lutz, Tilman (2015): Dressur zur Mündigkeit? „Stufenvollzug“ als Strukturmerkmal nicht nur von offiziell geschlossenen Einrichtungen. In: Beiträge zu Theorie und Praxis der Jugendhilfe (TPJ), 12/2015, S. 24-35
Lindenberg, M. (2010): Geschlossene Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe. Darstellung, Kritik, politischer Zusammenhang. In: Dollinger, B./Schmidt-Semisch, H. (Hrsg.): Handbuch Jugendkriminalität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 557-572
Tischler, Klaus (2010): Sonderformen stationärer Jugendhilfe. In: Jugendhilfe im Dialog, Heft 4/2010, S. 44-56
Verband Sozialpädagogischer Projekte e.V.: Homepage/Über uns (rev. 30.8.2014)
Weitere Literatur und Materialien unter: www.geschlossene-unterbringung.de
Weitere Mitunterzeichner (Verbände und Einzelpersonen):
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Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Bildungswissenschaften, Forschungsverbund „Institutionelle Grenzsituationen und Konstellationen von Zwang und Gewalt in stationären Hilfesettings (IGGH)“
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SOAL Alternativer Wohlfahrtsverband, Große Bergstr. 154, 22767 Hamburg
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IGfH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, Frankfurt
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Arbeitskreis kritische Soziale Arbeit (AKS) Hamburg
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DRK-Kreisverband Uelzen e.V.
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Martina Kriener (IGfH-Mitglied und wiss. Mitarbeiterin an der FH Münster)
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KIDS, Anlaufstelle für Kinder- und Jugendliche am Hamburger Hauptbahnhof
- Im Folgenden verweisen wir auf den Link zu dem zu unserer Position eingegangenen Stellungnahme von Tischler. Wir halten jedoch an unserer fachlichen Meinung fest, dass ein Stufenvollzug in der stationären Heimunterbringung völlig unangemessen ist und bleibt und kein geeignetes erzieherisches Mittel in einer zeitgemäßen Jugendhilfe sein kann.