Weser Kurier vom 13.02.2017
Diskussion um geschlossene Unterbringung
Sie sind auf die harten Jungs eingestellt. Genau die sind ihre Zielgruppe hier, die sogenannten Systemsprenger. Nach mehreren Monaten in der neuen Einrichtung in Hemelingen sollen sie ihr Leben wieder im Griff haben. Wieder den geraden Weg gehen, von dem sie teilweise schon vor Jahren abgekommen sind. Oder auf dem sie noch nie waren. Marco* zum Beispiel flog erst Zuhause raus, dann aus einer Wohngruppe der Jugendhilfe.
Diese Einrichtung ist die letzte Chance für ihn. Jetzt geht er zur Schule, macht Zukunftspläne. Er ist einer von denen, bei denen es zu klappen scheint. Und die Sozialbehörde hofft, dass es noch bei vielen anderen klappt. Auch bei denen, mit denen vor rund zwei Jahren alle in Bremen überfordert waren.
Eine kleine Gruppe von rund 30 jugendlichen Straftätern aus dem Ausland beging damals eine Menge Straftaten in Bremen. Wenn sie geschnappt wurden, schlugen sie um sich, bissen, traten Polizisten, koteten sich ein. Sobald sie in einer Jugendhilfe-Einrichtung waren, hauten sie wieder ab. Alle waren überfordert, die Polizei, die Justiz und auch die Jugendhilfe.
Böhrnsen forderte 2015 eine geschlossene Unterbringung
Die Lösung lautete damals: einsperren. Zumindest zeitweise einsperren hielten die Bremer Politiker für eine gute Idee, um mit den minderjährigen Straftätern fertig zu werden. Aber nicht in der Bremer Justizvollzugsanstalt, sondern in einer neuen Einrichtung, einer teilweise geschlossenen Einrichtung. Dort sollten Mitarbeiter der Jugendhilfe intensivpädagogisch mit den Jungs arbeiten, das Ganze sollte eine Alternative zur Untersuchungshaft sein. Der damalige Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) hatte im Februar 2015 solch eine geschlossene Unterbringung gefordert.
>> Zum Dossier über straffällige junge Flüchtlinge in Bremen <<
Als Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) im April 2016 ankündigte, auf dem Gelände der ehemaligen JVA im Blockland diese Einrichtung zu bauen, war das eine von drei Maßnahmen, um besser mit den minderjährigen Ausländern klarzukommen. Außerdem sollte die Straßensozialarbeit ausgebaut und weitere intensivpädagogische Angebote aufgebaut werden. Das ist inzwischen passiert, die Einrichtung in Hemelingen ist eine von denen, die Plätze zur Haftvermeidung anbietet.
Nicht nur für minderjährige Ausländer, sondern auch für problematische deutsche Jugendliche. Auch die in der Rekumer Straße wurde entsprechend weiterentwickelt, bald sollen zehn Plätze am Sattelhof entstehen und ein weiteres Haus soll Mitte des Jahres in Burglesum öffnen. Insgesamt werden nach den Plänen der Sozialbehörde dann 34 Plätze zur Haftvermeidung zur Verfügung stehen.
Ein Betreuer für jeden Jugendlichen
Haftvermeidung funktioniert so: Ein Jugendrichter ordnet sie an, wenn er das für sinnvoll hält. Er bietet dem Jugendlichen zwei Möglichkeiten an: entweder Untersuchungshaft oder in solch eine Jugendhilfeeinrichtung. Er muss sich an Auflagen halten, darf zum Beispiel bestimmte Personen nicht treffen, und er muss die Regeln der Einrichtung einhalten. Klappt das nicht, muss er doch in Untersuchungshaft.
Das Haus in Hemelingen, das der Jugendhilfeträger Synthese betreibt, nimmt seit Mai 2016 bis zu acht Jugendliche auf. Olaf Stolz leitet die Einrichtung, er sagt: „Am Ende läuft alles über die persönliche Beziehung zwischen den Jungs und den Betreuern.“ Auf einen Jugendlichen kommt ein Betreuer, sie arbeiten intensiv mit ihnen, sind ansprechbar, erinnern an die Regeln – und wenn es sein muss, dann reißen sie morgens um halb 7 auch die Zimmerfenster auf und schalten das Licht ein, damit die Jugendlichen aufstehen und zur Schule gehen.
Marco ist 17, seine Haare sind an der Seite kurz, die oberen hat er hinten zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Er sitzt auf einer Bank im Fitnessraum, in jeder Hand eine Hantel mit eineinhalb Kilogramm Gewicht. „Nur zum Aufwärmen“, sagt er. Später schraubt er noch mehr Kilos ran. Mit dem Sport hat er hier erst so richtig begonnen. Seit einem Monat lebt er hier, und er glaubt, dieses Mal bleibt er. Er mag die Betreuer und die anderen Jugendlichen, er fühlt sich wohl. Genau das ist die Idee von Olaf Stolz: Die Jugendlichen müssen sich wohlfühlen. Sonst erreichen seine Kollegen und er sie nicht. Eingesperrt wird hier niemand, die Türen sind immer offen. Von einer geschlossenen Unterbringung hält er nichts. Dort werde ein angepasstes Verhalten erzwungen, sagt der Sozialpädagoge.
Kosten für den Bau sind hoch
Als der Senat im April 2016 seinen Maßnahmenplan zum Umgang mit straffälligen Jugendlichen vorstellte, sagte Sozialsenatorin Anja Stahmann, die Einrichtung im Blockland sollte „in einer Kette von Maßnahmen“ eines von vielen Gliedern sein, „aber ein ganz entscheidendes“. Wenn es nach dem ehemaligen Sozialstaatsrat Horst Frehe ginge, könnte die Maßnahmenkette auf dieses Glied verzichten. „So eine Einrichtung ist nicht erforderlich, sie ist wirtschaftlich nicht zu vertreten, kurzfristig nicht herstellbar, fachlich nicht zu rechtfertigen, sicherheitspolitisch überflüssig und rechtsstaatlich bedenklich“, sagte Frehe. Im Juli 2016 hat er eine Petition eingereicht, in der er sich gegen die geschlossene Unterbringung für Jugendliche ausspricht.
Am vergangenen Freitag hörte ihn der Petitionsausschuss an. Horst Frehe führte aus, dass die Jugendlichen, für die diese Einrichtung gedacht war, Bremen entweder verlassen haben, im Gefängnis sitzen oder inzwischen über 18 sind. Die Kosten für den Bau seien mit rund zehn Millionen Euro sehr hoch und es gebe nun alternative Angebote der Jugendhilfe. Der Senat habe der Sozialbehörde damals lediglich den Auftrag gegeben, eine solche Einrichtung zu prüfen. Aber nicht, sie zu bauen.
Heidemarie Rose erklärte als Vertreterin der Sozialbehörde deren Position. Auch sie sagte: Die Situation, die es 2015 gab, sei mit heute nicht mehr zu vergleichen. Die Zielgruppe, um die es dem Senat damals ging, gebe es so heute nicht mehr. Nur noch einer dieser Jugendlichen sei unter 18 und käme damit für solch eine teils geschlossene Jugendhilfe-Einrichtung überhaupt in Frage. „Es ist eine legitime Frage, ob man eine Einrichtung in dieser Größenordnung braucht“, sagte Heidemarie Rose. Ursprünglich sollte die Einrichtung im Blockland Platz für 24 Jugendliche bieten. Die Hälfte dieser Plätze sollte Hamburg belegen.
Thema soll neu bewertet werden
„Bedarf an Plätzen in einer geschlossenen Unterbringung gibt es in der gesamten Bundesrepublik“, sagte Heidemarie Rose. Wenn es eine solche Einrichtung in Bremen gäbe, würde ihrer Ansicht nach eine bundesweite Nachfrage entstehen. Horst Frehe sprach von einem Kapazitätsproblem: Man lade andere Bundesländer ein, ihre schwierigen Jugendlichen nach Bremen zu schicken, wenn man die Plätze selbst nicht besetzen könne. Heidemarie Rose kündigte an: „Der Senat behält sich vor, in Kürze eine Entscheidung über die tatsächliche Umsetzung zu treffen.“
Mustafa Öztürk (Grüne) ist stellvertretender Vorsitzender des Petitionsausschusses. „Bei der Lagebewertung muss man zu einem anderen Ergebnis kommen“, sagte er. Auch die Ausschussvorsitzende, Insa Peters-Rehwinkel (SPD), sprach sich dafür aus, die veränderte Situation als Grundlage zu nehmen, um das Thema geschlossene Unterbringung neu zu bewerten. Der Petitionsausschuss wird nun einen Bericht schreiben und ihn an die Bürgerschaft weiterleiten. Die stimmt dann ab. Das letzte Wort aber hat ohnehin jemand anders: der Senat. „Dessen Entscheidung können wir nicht vorwegnehmen“, sagte Peters-Rehwinkel.
Wenn Marco in Hemelingen mit seinem Training fertig ist, wird er mit den Betreuern und den anderen Jugendlichen zu Mittag essen. Nudeln mit Thunfischsoße stehen auf dem Speiseplan. Danach wird er sauber machen, er hat an diesem Tag Küchendienst. Manche brauchen lange, bis sie sich an Regeln halten, zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen, sagt Olaf Stolz. Und es klappt nicht immer, vielleicht bei jedem zweiten Jugendlichen, schätzt er. Marco macht gerade seinen Hauptschulabschluss, danach will er den Realschlussabschluss machen. Und dann will er Fotograf werden und Bilder von der Natur machen.
* Name von der Redaktion geändert.