Offener Brief an Bremer Bürgerschaftsabgeordnete und Senatsmitglieder aus Sorge um die Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe

Bremen, 07. April 2021

Sehr geehrte Frau / Herr Abgeordnete/r in der Bremer Bürgerschaft,

ich wende mich an Sie (Abgeordnete bzw. Senatsmitglieder) aus Sorge um die Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe. Ich war 13 Jahre lang als Diplomsozialpädagoge und Familientherapeut in der Bremer Kinder- und Jugendhilfe tätig und hatte im Anschluss drei Jahre lang einen Lehrauftrag im Studiengang Soziale Arbeit (Hochschule Bremen). Meine Anliegen gliedern sich in zwei Teile.

Im ersten Teil geht es um die Reformabsichten zu den gesetzlichen Grundlagen, die zur Zeit im Bundestag und Bundesrat (Reform SGB VIII) anhand eines von SPD/CDU eingebrachten Gesetzentwurfes zur Abstimmung anstehen.

Im zweiten Teil geht es um Bremer Familien, Kinder und Jugendliche, die von stationären Unterbringungen in sog. „intensivpädagogischen“, oder (teil)geschlossenen Einrichtungen (auch in der Jugendpsychiatrie) betroffen sind. Dazu übersende ich Ihnen einen angehängten Fragenkatalog, als Vorschlag für eine parlamentarische Anfrage.

Zu I.

Seit 12 Jahren wird an einer „Reform“ des Sozialgesetzbuch SGB VIII – unter dem Namen „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz KJSG“ – gearbeitet. Im Bremer Bündnis Soziale Arbeit haben wir seit Gründung 2011 kritisch diesen Prozess begleitet und etliche Fachtage dazu organisiert. (https://bremerbuendnissozialearbeit.jimdofree.com/stellungnahmen/stellungnahmen-zur-geplanten-sgb-viii-novelle/) Ich bin in sehr großer Sorge angesichts der negativen Konsequenzen für die Lebenswirklichkeit der betroffenen Familien und Kinder, die sich aus den vorliegenden Entwürfen ergeben könnten.

Meines Erachtens würden mit dem zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf im Bundestag und Bundesrat statt präventiver Unterstützung von Familien und Kindern in prekären Lebenslagen lediglich die staatlichen Kontrollinstanzen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe unter dem Schlagwort „Kinderschutz“ weiter ausgebaut. Ich war selbst in den 1970er und 1980er Jahren beteiligt an den Bemühungen für die dringend notwendige Reform der „Jugendfürsorge“, die schließlich ab 1991 einmündete in das heute in seinen Grundzügen noch geltende Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Danach sind Kinder (zumindest laut Gesetz) nicht mehr OBJEKTE staatlicher, eingreifender „Fürsorge“, sondern zu respektierende SUBJEKTE; und ihre Familien haben, unserem Grundgesetz entsprechend, einen Rechtsanspruch auf eine angemessene und dem je besonderen Bedarf ihrer Kinder entsprechende Hilfe.

Nunmehr sollen aber laut vorliegendem Gesetzentwurf „Wege“ eingebaut werden, diesen Rechtsanspruch zu umgehen; und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die ohnehin seit Jahren „zusammengesparten“ offenen und präventiven Bereiche leider nicht – wie zu wünschen wäre – rechtlich und finanziell gestärkt. Genau dies wird seit Jahren von den betroffenen Familien und jungen Menschen und den „vor Ort Fachkräften“ gefordert und fand trotzdem keinen Eingang in den Gesetzentwurf.

Wir bräuchten aber eine Verbesserung der bisherigen Hilfeangebote, um Familien zu unterstützen, auch in krisenhaften Lebensphasen ihre Lebensumstände wieder zu einem Ort des guten Gelingens werden zu lassen. Was jetzt möglicherweise kurzfristig Kosten senkt, könnte zukünftig teure stationäre Fremdunterbringungen noch weiter ansteigen lassen.

Vor allem die wünschenswerte Inklusion könnte – wegen fehlender, bzw. nicht zugewiesener finanzieller Ressourcen – zu immensen Mehrkosten der ohnehin bereits „klamm gemachten“ Kommunen führen, und zur Folge haben, dass „arme Familien“ unzulässigerweise in Budget-Konkurrenz gesetzt werden mit „Familien mit behinderten Kindern“.

Der bisherige Gesetzentwurf, sowie die bekannt gewordenen Änderungsbedarfe des Bundesrates, auf den der Bremer Senat durchaus Einfluss hat, würde mit ihrer Vielzahl bürokratischer Vorgaben – abseits von pädagogischer Qualität – einhergehen und Sachzwänge schaffen, die an den Bedarfen der Familien und ihrer Kinder vorbeigeht. Es fehlen auch qualitative und quantitative Vorgaben, die den regionalen Jugendämtern und den von ihnen beauftragten Trägern bei der Gewährleistung notwendiger Qualität Orientierung geben würden.

Die Kinder- und Jugendhilfe läuft damit Gefahr, gegenüber prekär lebenden Familien als zu „verwaltende Problemträger“ zu intervenieren – ganz entgegen dem Anspruch im bisherigen SGB VIII, sich an der Lebenswelt der Adressaten zu orientieren und die Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung anzustreben (Hilfe zur Selbsthilfe).

Anbei finden Sie ergänzend einen offenen Brief von FachkollegInnen, zum Teil auch ehemalige Leiterinnen von Jugendämtern, die ebenso wie ich in großer Sorge sind in Bezug auf die weiteren Entwicklungen in der Jugendhilfe. Mein Eindruck ist, dass vielen Abgeordneten die massiven Auswirkungen des vorliegenden Gesetzesentwurfes kaum bekannt sind.

Bitte setzen Sie sich stattdessen dafür ein, dass der Familienbezug, die Fachlichkeit, die Lebensweltorientierung und die Qualität der Kinder- und Jugendhilfe verbessert wird, statt sie noch zusätzlich zu belasten. Dazu gehört auch, dass vor Ort in den Jugendämtern keine neuen Kosten-Konkurrenzen entstehen und der Bund für eine entsprechende Absicherung der zusätzlichen Aufgaben sorgt.

Zu II.

Aus Sorge um die zunehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die aus ihren Familien „genommen“ und in (teil)geschlossenen Heimeinrichtungen untergebracht werden, rege ich an, den angehängten Fragenkatalog in Form einer parlamentarischen Anfrage in der Bürgerschaft zu debattieren. Da die Regierungsparteien in der Regel wenig Interesse haben, ihr eigenes Regierungshandeln einer kritischen Prüfung zu unterziehen, besonders vor den Wahlen, wäre dies die ureigenste Aufgabe der Opposition.

Fragen an den Bremer Senat zur Fremdunterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe:

  • Haben wir in Bremen Kinder- und Jugendheime mit Teilschließung?
  • Haben wir in Bremen Heime, wo Token- und Phasenmodelle (Dressurmodelle) eingesetzt werden?
  • Haben wir in Bremen eine geschlossene Einrichtung für junge Menschen?
  • Wie viele junge Menschen werden in (teil)geschlossenen Einrichtungen außerhalb Bremens untergebracht?

Eine ausführliche Präzisierung der Fragen und Erläuterung der dazugehörigen Anlässe in der bremischen Jugendhilfe findet sich im Anhang dieser Mail.

Weitere Informationen finden sich auch hier: https://bremerbuendnissozialearbeit.jimdofree.com/gegen-geschlossene-unterbringung/

Mit freundlichen Grüßen

Rodolfo Bohnenberger

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