Psychische und körperliche Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in früherer Heimunterbringung – Forderung nach Aufarbeitung und Lehren, Entschuldigung und Entschädigung durch das Land Bremen. (Dringlichkeitsantrag der Fraktion der CDU. B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Drucksache 20/1626, Land 20. Wahlperiode 11. Oktober 2022. (Hier pdf zum Download)
Das Leid von 16 Bremer Kindern und Jugendlichen, welches ihnen während der Jahre 2008-2015 in den Haasenburg- und Friesenhof-Heimen zugefügt wurde, ist unermesslich und verbunden mit lebenslangen persönlichen Traumata. Verantwortung für die Einweisung in solche Unterkünfte, in denen Minderjährige schutzlos der Willkür und psychischer wie körperlicher Gewalt ausgesetzt waren, trägt auch die Bremische Kinder- und Jugendhilfe. Bis heute sind die Übergriffe in den Heimen nicht vollständig aufgeklärt, insbesondere nicht für die Opfer aus Bremen. Bis heute haben der Senat und das Landesjugendamt damaliges Leid und Missstände nicht anerkannt, ihre Schuld und Mitverantwortung nicht eingeräumt und sich nicht bei den heute erwachsenen Menschen entschuldigt. Das Land Brandenburg ist hier schon wesentlich weiter. Dort wurde durch die Landesregierung zur Aufarbeitung der Vergangenheit in den Heimen eine hochkarätige Expertenkommission eingesetzt und bereits vor acht Jahren entschuldigte sich dort die Bildungsministerin ausdrücklich bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen von einst.
Nicht so in Bremen – hier schiebt der Senat die Verantwortung bis heute weit von sich. Aktuelle Fragen nach erlebtem Leid in den Einzelfällen und nach Langzeitschäden bei den Betroffenen beantwortet der Senat mit Nichtwissen. Es lägen kaum Kenntnisse darüber vor und offensichtlich ist man nicht bemüht, diese zu erlangen und auf die heute Erwachsenen demütig zuzugehen. Alle bisher vorliegenden Erkenntnisse speisen sich aus Untersuchungsberichten, die eben nicht von Bremen initiiert und durchgeführt wurden. Noch nicht einmal sind Aussagen von oder zu Kindern und Jugendlichen aus Bremen in den Berichten enthalten, wie wir aus der Drucksache 20/1436 erfahren.
Warum nicht? Und warum wurde das auf Initiative des Landes nach so vielen Jahren nicht nachgeholt?
Zudem will man von behördlicher Seite in Bremen auch nicht wissen, ob die 16 Bremer Kinder und Jugendlichen Leidtragende untersuchter Straftaten und etwaiger Ermittlungsverfahren waren. Warum wurde auch dem bis heute nicht nachgegangen? Der Senat beteiligte sich zu keiner Zeit an der aktiven strafrechtlichen Aufarbeitung, wie er selbst einräumt. Auch das Landesjugendamt Bremen will von einer Schädigung der 16 Kinder und Jugendlichen nichts wissen, obwohl diese nach Auskunft des Senats nach ihrer Befreiung aus den berüchtigten Heimen weiterhin in der Obhut der hiesigen Kinder- und Jugendhilfe begleitet und betreut wurden. Das wirft doch einige Fragen auf, nicht nur im Blick zurück, sondern auch mit Blick auf die heutige Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe.
Vor allem aber antwortet der Senat auf die wichtigste Frage nach den Ansprüchen der Opfer auf Entschädigung ausweichend und letztlich abschlägig.
Eine Analogie zu Entschädigungen aus Geldern der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ für Heimkinder der Jahre 1949-1975 sei nicht herzustellen und sowieso könnten sich doch alle Opfer auf das Opferentschädigungsgesetz stützen und sich an den Bremischen Opferschutzbeauftragten wenden. Wieder einmal also keine Geste der Mitschuld und Reue gegenüber den hier geschädigten Menschen. Nicht einmal wisse man nach Auskunft des Senats etwas über zivilrechtliche Klagen auf Schadensersatz der hier Betroffenen, daran könne sich kein Richter, keine Richterin erinnern. So steht es tatsächlich in der benannten Drucksache geschrieben.
An die menschenverachtende Zeit in den Heimen dagegen werden sich alle Betroffenen ein Leben lang schmerzhaft erinnern und womöglich gerade deshalb die notwendige Kraft für langwierige und erneut traumatisierende Gerichtsverfahren nicht aufbringen können. Wo bleibt hier die von Bremen ausgehende Initiative einer Aufarbeitung, der Entschuldigung, Unterstützung und Entschädigung? Und welche Lehren ziehen die Jugendämter im Land Bremen aus diesen Erfahrungen?
Allein im Jahr 2021 wurden an den Familiengerichten des Landes 152 Anträge auf geschlossene Unterbringung gestellt; aktuell müssen nahezu 957 Bremer Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen abseits familiärer Bindung leben. Über die Lebensumstände dieser Minderjährigen und Schutzbefohlenen liegen uns nur sehr wenige Erkenntnisse vor. Einzelfälle von Kindeswohlgefährdung ließen auch in den vergangenen Jahren immer wieder aufhorchen. Hier braucht es auch gegenwärtig mehr gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit, mehr Transparenz über die Lebensumstände hinter Heimtüren.
Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:
1. Die Bremische Bürgerschaft erkennt die Missstände und das von Bremer Kindern und Jugendlichen erfahrene Leid in den früheren Haasenburg- und Friesenheimen an und zugleich die Mitschuld der Bremischen Kinder- und Jugendhilfe. Die Bremische Bürgerschaft drückt hierzu ihr Mitgefühl mit den Opfern und ihr Bedauern aus.
Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf,
2. aktiv auf die in den Haasenburg- und Friesenheimen geschädigten Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören und sich öffentlich bei ihnen zu entschuldigen;
3. die damaligen Geschehnisse und die psychische wie körperliche Gewalt an Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich in einer Studie aufzuarbeiten und dabei insbesondere die Rolle der Jugendämter im Land Bremen bei Einweisung und nach Rückführung der Kinder und Jugendlichen zu beleuchten;
4. unabhängig von der Novelle des Opferentschädigungsgesetzes auf Bundesebene und einer Fondslösung allen Opfern im Land Bremen eine angemessene Landesentschädigung zu zahlen, die die Finanzierungslücke schließt und nach vielen Jahren die Menschen endlich schnell und unbürokratisch erreicht;
5. die betroffenen Menschen zur Bewältigung von Traumata bei notwendigen professionellen Therapien fachlich und finanziell zu unterstützen;
6. aus der Vergangenheit entsprechende Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen und dafür das Casemanagement (Vorgesetzte und Casemanager) in der Kinder- und Jugendhilfe so zu ertüchtigen, dass alle quantitativen und vor allem qualitativen Erfordernisse erfüllt werden können zum Wohle der in stationären Einrichtungen lebenden Kinder und Jugendlichen;
7. mehr Transparenz über die Lebens- und Versorgungsumstände in den stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe im Land Bremen herzustellen und hierzu eine wissenschaftliche Studie zu den heute praktizierten intensivpädagogischen Konzepten und deren Umsetzung extern zu vergeben, bei der vor allem die Kinder und Jugendlichen selbst zu Wort kommen müssen.
Beschlussempfehlung:
Sandra Ahrens, Heiko Strohmann und Fraktion der CDU
REAKTION des BREMER SENATS auf den CDU-DRINGLICHKEITSANTRAG
Erfahrenes Leid anerkennen – Solidarität mit den geschädigten früheren Heimkindern
BREMISCHE BÜRGERSCHAFT Land 20. Wahlperiode 11. Oktober 2022, Dringlichkeitsantrag der Fraktionen DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hier pdf zum Download)
Ab dem Jahr 2012 wurden sukzessive Missstände in den teilweise geschlossenen Haasenburg-Heimen in Brandenburg und den Friesenhof-Heimen in Schleswig-Holstein unter anderem durch Presseberichte bekannt, die Heime wurden schließlich 2013 und 2015 geschlossen. In beiden Institutionen wurde auf bedingungslose Unterordnung gesetzt, die mit Zwang, Herabwürdigung, zum Teil mit körperlicher Gewalt, zum Teil mit wochenlangem Freiheitsentzug in „Einzelhaft“ durchgesetzt wurde. Einige der Betroffenen selbst gehen und gingen mit ihren leidvollen Erfahrungen an die Öffentlichkeit und auch Psycholog*innen, die die Langzeitfolgen von betroffenen Kindern und Jugendlichen untersuchten, stellten zum Teil andauernde schwere traumatische Belastungen fest.
Auch Bremer Kinder und Jugendliche wurden in den genannten Einrichtungen untergebracht, wenngleich nicht bis zur behördlichen Schließung. Die notwendige Aufarbeitung der Vorgänge, die zur dortigen Unterbringung und dem zugefügten Leid führten, wurde mit der von den Fraktionen DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen und der SPD an den Senat gerichteten Großen Anfrage angestoßen und bedarf nun einer
Fortführung durch eine extern durchzuführende Studie.
Das Bundesland Bremen hat sich aktiv eingebracht in die Aufarbeitung des Leids der so genannten Heimkinder der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre und hat die Einrichtung der Stiftung Anerkennung und Hilfe unterstützt. Doch auch nach 1975 hat es geschlossene Jugendheime und Jugendhilfeeinrichtungen gegeben, deren pädagogische Ansätze oder Alltag geprägt waren von psychischer und körperlicher Gewalt. Den Betroffenen, auch aus Bremen, fehlt bis heute die politische Anerkennung des durch die öffentliche Unterbringung erlebten Leids, eine umfassende Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen sowie eine angemessene Entschädigung. Eine Entschädigung gibt es anders als für die früheren „Heimkinder“ nicht.
Auch auf Basis des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) ist es nicht möglich, eine Entschädigung aufgrund erlittener psychischer Gewalt zu erhalten. 2024 wird das OEG
in das neue Sozialgesetzbuch XIV (SGB XIV) überführt, ab diesem Zeitpunkt wird auch eine Entschädigung aufgrund psychischer Gewalterfahrung möglich sein. Eine Entschädigung für vor 2024 zugefügte psychische Gewalt ist derzeit höchst unwahrscheinlich.
Es ist überfällig, dass das Leid der Betroffenen anerkannt wird, dass Behörden aktive Unterstützung anbieten und das soziale Entschädigungsrecht so angepasst wird, dass die zeitliche Lücke in der Entschädigung von Heimkindern zwischen 1975 und 2024 geschlossen wird.
Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:
Beschlussempfehlung:
- Die Bremische Bürgerschaft sieht und erkennt erlittenes Leid, das die Kinder und Jugendlichen in den Jugendeinrichtungen der Haasenburg und des Friesenhofs erfahren haben, und bedauert dies zutiefst.
Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf, - die individuellen und strukturellen Umstände und Folgen der Unterbringung in den geschlossenen oder intensivpädagogischen Jugendheimen Haasenburg und Friesenhof durch eine extern zu beauftragende Studie weiter aufzuarbeiten;
- sich in der Jugend- und Familienminister*innenkonferenz (JFMK), bei den beteiligten Bundesländern und auf Bundesebene für die Schließung der Schutzlücke für die ehemaligen Heimkinder, die nach dem durch die Stiftung Anerkennung abgedeckten Zeitraum und vor Inkrafttreten der Opferentschädigungsgesetz-Novelle untergebracht waren, einzusetzen. Denkbar hierfür wäre z.B. eine Fondslösung oder eine Berücksichtigung im SGB XIV;
- dafür Sorge zu tragen, dass den Betroffenen, sofern möglich, direkt oder über die Öffentlichkeit durch die zuständigen Behörden Gesprächsangebote unterbreitet werden.
Sofia Leonidakis, Nelson Janßen und Fraktion DIE LINKE
Petra Krümpfer, Birgitt Pfeiffer, Jasmina Heritani, Mustafa Güngör und Fraktion der SPD
Sahhanim Görgü-Philipp, Björn Fecker und Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN
Tageszeitung vom 12. Oktober 2022 berichtet über die nun in Bremen beginnende Debatte um echte Opferentschädigung und weitere KONSEQUENZEN AUS DEN HEIMSKANDALEN
Kaija Kutter hat in ihrem Beitrag in der TAZ vom 12.10.2022 (Hier pdf Download) Bezug genommen auf den oben dokumentierten Dringlichkeitsantrag der CDU vom 11.10.2022 und die unmittelbare Reaktion des Bremer Senats (SPD/Grüne PdL) mit einem eigenen Dringlichkeitsantrag. Wir befinden uns bereits im Vorwahlkampf zur Bremischen Bürgerschaft (Wahltermin Mai 2023).
Die nun aus Bremen kommende Opferentschädigungsinitiative sollte eine Vorlage für Initiativen anderer Bundesländer sein, mit dem Ziel der Schaffung A. eines Fonds für die Betroffenen oder B. (besser noch) der Berücksichtigung der berechtigten Opferinteressen auch in der zeitlichen „Schutzlücke“ der Jahre 1975 bis 2023 im neuen Sozialgesetzbuch (SGB) XIV, das ab 2024 gelten soll.
TAZ: “Der Bremer Senat solle nun nicht nur eine externe Studie in Auftrag geben, um die konkreten Umstände und Folgen der Unterbringung in Haasenburg und Friesenhof weiter aufzuarbeiten. Im Gespräch dafür ist eine Kulturwissenschaftlerin, die bereits zur Heimerziehung in der NS-Zeit forschte. Der Senat soll sich auch auf der Jugendministerkonferenz dafür stark machen, besagte „Schutzlücke“ zu schließen …”.
Die gerade mal sechs Monate alte Mitteilung des Bremer Senats vom 26. April 2022 sah demgegenüber lediglich eine “Bewertung und kritische Aufarbeitung der Maßnahmen in geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen” vor. Die CDU kommentierte das folgendermaßen: “…hier schiebt der Senat die Verantwortung bis heute weit von sich. Aktuelle Fragen nach erlebtem Leid in den Einzelfällen und nach Langzeitschäden bei den Betroffenen beantwortet der Senat mit Nichtwissen. Es lägen kaum Kenntnisse darüber vor und offensichtlich ist man nicht bemüht, diese zu erlangen und auf die heute Erwachsenen demütig zuzugehen. Alle bisher vorliegenden Erkenntnisse speisen sich aus Untersuchungsberichten, die eben nicht von Bremen initiiert und durchgeführt wurden. Noch nicht einmal sind Aussagen von oder zu Kindern und Jugendlichen aus Bremen in den Berichten enthalten, wie wir aus der Drucksache 20/1436 erfahren.”
Noch ungeklärt bleibt leider weiterhin, wie denn nun vermieden werden soll, dass aktuell und zukünftig überhaupt solches Leid innerhalb des Kinder- und Jugendhilfesystems entstehen kann.
CDU: “Allein im Jahr 2021 wurden an den Familiengerichten des Landes 152 Anträge auf geschlossene Unterbringung gestellt; aktuell müssen nahezu 957 Bremer Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen abseits familiärer Bindung leben. Über die Lebensumstände dieser Minderjährigen und Schutzbefohlenen liegen uns nur sehr wenige Erkenntnisse vor. Einzelfälle von Kindeswohlgefährdung ließen auch in den vergangenen Jahren immer wieder aufhorchen. Hier braucht es auch gegenwärtig mehr gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit, mehr Transparenz über die Lebensumstände hinter Heimtüren.”
Auszug: “Eingriffsorientierte Maßnahmen, Sorgerechtsentzüge, Heimunterbringungen (zu 2/3 außerhalb Bremens) und Psychiatrisierungen wurden in den letzten 20 Jahren überproportional ausgeweitet. Bremen hat bundesweit einen traurigen Spitzenplatz in Sorgerechtsverfahren und -entzügen, und das vor dem Hintergrund einer massiven Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Kinder, Jugendlichen und Familien – besonders in der Armutshochburg Bremen. Im maßgeblichen Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) sind viele alltagsorientierte, subjektorientierte, sozialraumorientierte und lebensweltorientierte Herangehensweisen verankert. – Leider ist die aktuelle Handlungsrealität in den Kommunen oftmals eine ganz andere. Statt mithilfe einer stabilisierenden und sozialen Infrastruktur den betroffenen Menschen Entlastung und Stabilisierung anzubieten, werden ausgerechnet offene, präventiv wirkende Einrichtungen kaputtgespart. – Diese Aufgaben müssen aber mit einer auskömmlichen und dauerhaften Regel- und Grundfinanzierung gestärkt werden !”