Die Bremer Wohngruppe (im Trägerverbund von Caritas Erziehungshilfe Bremen gGmbh, Petri & Eichen, Diak. Kinder- und Jugendhilfe Bremen gGmbh, Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Bremen e.V.. INITIATIVE für Kinder, Jugendliche und Familien GmbH) ist ein Lebensort ohne Einschluss mit dem Anspruch, die jungen Menschen auszuhalten und nicht zu verlegen. Der Schwerpunkt liegt bei der individuellen Begleitung und Betreuung ohne starres Regelwerk. Es gibt einen hohen Personalschlüssel und ein multiprofessionelles Team. Insgesamt ein guter Ansatz. Paradox ist das altersbedingte (mit 14 Jahren) Ende der Betreuung. Problematisch bleibt die hohe Fluktuation der Mitarbeiter.
Der Ansatz ist interessant, weil die Einrichtung im Rahmen eines Trägerverbundes eine weitere alternative Möglichkeit zur Geschlossenen Unterbringung anbietet, neben dem Kooperationspool, bzw. der Koordinierungsstelle und den Sozialräumlichen Angebotsstrukturen, die auch (ehemalige) Nutzer*innen einbeziehen.
Es liegt nun eine Evaluation (Download unten) dieser Wohngruppe PortNord vor (Projektlaufzeit: 01.11.2021 – 31.12.2022), erstellt an der Hochschule Bremen, Prof. Dr. Sabine Wagenblass, Prof. Dr. Christian Spatscheck in Kooperation mit der Fachhochschule Münster, Prof. Dr. Peter Hansbauer, Prof. Dr. Reinhold Schone im Dezember 2022
Theateraufführung mit anschließender Diskussion am 20. April 2023 an der EAH Jena, Start: 19:00 Uhr
Am Fachbereich Sozialwesen wird am 20. April in Kooperation mit der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, dem FB Sozialwesen, dem DAKT e.V. und dem Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung in Thüringen das Theaterstück „Heimrevolte – Nicht nur ‚Peter, I love you‘ oder ‚Allet scheiße’“ aufgeführt.
Das Theaterstück ist im Rahmen des Projektstudiums „Uni in gesellschaftlicher Verantwortung“ an der Universität Hamburg entstanden. „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“. Sätze wie dieser prägen seit Jahrzehnten die Erziehung vieler Kinder. Woher kommt es, dass diese Aussage als Bedrohung wahrgenommen wird? Wieso hat die Heimerziehung so einen weitverbreiteten schlechten Ruf?
Mit diesen Fragen ist der Sinn (in) der Jugendhilfe aufgerufen. Geht es darum, Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen vor allem anzupassen oder darum, Möglichkeiten zu schaffen, Persönlichkeiten zu werden, die gesellschaftlich handlungsfähig sind? Diese und weitere Fragen rund um Heimerziehung als politisches und pädagogisches Konfliktfeld werden über das Theaterstück thematisiert.
In der anschließenden Diskussion mit dem studentischen Ensemble, Vertreter*innen des Thüringer Aktionsbündnisses sowie Jugendhilfepolitiker*innen und dem Publikum wird auch der Bogen zu aktuellen Entwicklungen in der Heimerziehung und zur gegenwärtigen Bedeutung von Zwangsmaßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe geschlagen.
Zwei Jahre GU in Thüringen – Zwei verschenkte Jahre für eine qualitativ bessere Kinder- und Jugendhilfe. Ein Bericht (hier als pdf downloadbar) aus dem Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung in Thüringen. […]
Das Thüringer Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung trifft sich derzeit alle 4 bis 6 Wochen virtuell. Für 2023 sind analoge Treffen in Jena geplant. Bei Interesse an einer Mitarbeit im Aktionsbündnis erhalten Sie weitere Informationen unter gguth (at) posteo.de
Psychische und körperliche Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in früherer Heimunterbringung – Forderung nach Aufarbeitung und Lehren, Entschuldigung und Entschädigung durch das Land Bremen. (Dringlichkeitsantrag der Fraktion der CDU. B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Drucksache 20/1626, Land 20. Wahlperiode 11. Oktober 2022. (Hier pdf zum Download)
Das Leid von 16 Bremer Kindern und Jugendlichen, welches ihnen während der Jahre 2008-2015 in den Haasenburg- und Friesenhof-Heimen zugefügt wurde, ist unermesslich und verbunden mit lebenslangen persönlichen Traumata. Verantwortung für die Einweisung in solche Unterkünfte, in denen Minderjährige schutzlos der Willkür und psychischer wie körperlicher Gewalt ausgesetzt waren, trägt auch die Bremische Kinder- und Jugendhilfe. Bis heute sind die Übergriffe in den Heimen nicht vollständig aufgeklärt, insbesondere nicht für die Opfer aus Bremen. Bis heute haben der Senat und das Landesjugendamt damaliges Leid und Missstände nicht anerkannt, ihre Schuld und Mitverantwortung nicht eingeräumt und sich nicht bei den heute erwachsenen Menschen entschuldigt. Das Land Brandenburg ist hier schon wesentlich weiter. Dort wurde durch die Landesregierung zur Aufarbeitung der Vergangenheit in den Heimen eine hochkarätige Expertenkommission eingesetzt und bereits vor acht Jahren entschuldigte sich dort die Bildungsministerin ausdrücklich bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen von einst.
Nicht so in Bremen – hier schiebt der Senat die Verantwortung bis heute weit von sich. Aktuelle Fragen nach erlebtem Leid in den Einzelfällen und nach Langzeitschäden bei den Betroffenen beantwortet der Senat mit Nichtwissen. Es lägen kaum Kenntnisse darüber vor und offensichtlich ist man nicht bemüht, diese zu erlangen und auf die heute Erwachsenen demütig zuzugehen. Alle bisher vorliegenden Erkenntnisse speisen sich aus Untersuchungsberichten, die eben nicht von Bremen initiiert und durchgeführt wurden. Noch nicht einmal sind Aussagen von oder zu Kindern und Jugendlichen aus Bremen in den Berichten enthalten, wie wir aus der Drucksache 20/1436 erfahren.
Warum nicht? Und warum wurde das auf Initiative des Landes nach so vielen Jahren nicht nachgeholt?
Zudem will man von behördlicher Seite in Bremen auch nicht wissen, ob die 16 Bremer Kinder und Jugendlichen Leidtragende untersuchter Straftaten und etwaiger Ermittlungsverfahren waren. Warum wurde auch dem bis heute nicht nachgegangen? Der Senat beteiligte sich zu keiner Zeit an der aktiven strafrechtlichen Aufarbeitung, wie er selbst einräumt. Auch das Landesjugendamt Bremen will von einer Schädigung der 16 Kinder und Jugendlichen nichts wissen, obwohl diese nach Auskunft des Senats nach ihrer Befreiung aus den berüchtigten Heimen weiterhin in der Obhut der hiesigen Kinder- und Jugendhilfe begleitet und betreut wurden. Das wirft doch einige Fragen auf, nicht nur im Blick zurück, sondern auch mit Blick auf die heutige Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe.
Vor allem aber antwortet der Senat auf die wichtigste Frage nach den Ansprüchen der Opfer auf Entschädigung ausweichend und letztlich abschlägig.
Eine Analogie zu Entschädigungen aus Geldern der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ für Heimkinder der Jahre 1949-1975 sei nicht herzustellen und sowieso könnten sich doch alle Opfer auf das Opferentschädigungsgesetz stützen und sich an den Bremischen Opferschutzbeauftragten wenden. Wieder einmal also keine Geste der Mitschuld und Reue gegenüber den hier geschädigten Menschen. Nicht einmal wisse man nach Auskunft des Senats etwas über zivilrechtliche Klagen auf Schadensersatz der hier Betroffenen, daran könne sich kein Richter, keine Richterin erinnern. So steht es tatsächlich in der benannten Drucksache geschrieben.
An die menschenverachtende Zeit in den Heimen dagegen werden sich alle Betroffenen ein Leben lang schmerzhaft erinnern und womöglich gerade deshalb die notwendige Kraft für langwierige und erneut traumatisierende Gerichtsverfahren nicht aufbringen können. Wo bleibt hier die von Bremen ausgehende Initiative einer Aufarbeitung, der Entschuldigung, Unterstützung und Entschädigung? Und welche Lehren ziehen die Jugendämter im Land Bremen aus diesen Erfahrungen?
Allein im Jahr 2021 wurden an den Familiengerichten des Landes 152 Anträge auf geschlossene Unterbringung gestellt; aktuell müssen nahezu 957 Bremer Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen abseits familiärer Bindung leben. Über die Lebensumstände dieser Minderjährigen und Schutzbefohlenen liegen uns nur sehr wenige Erkenntnisse vor. Einzelfälle von Kindeswohlgefährdung ließen auch in den vergangenen Jahren immer wieder aufhorchen. Hier braucht es auch gegenwärtig mehr gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit, mehr Transparenz über die Lebensumstände hinter Heimtüren.
Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:
1. Die Bremische Bürgerschaft erkennt die Missstände und das von Bremer Kindern und Jugendlichen erfahrene Leid in den früheren Haasenburg- und Friesenheimen an und zugleich die Mitschuld der Bremischen Kinder- und Jugendhilfe. Die Bremische Bürgerschaft drückt hierzu ihr Mitgefühl mit den Opfern und ihr Bedauern aus.
Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf,
2. aktiv auf die in den Haasenburg- und Friesenheimen geschädigten Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören und sich öffentlich bei ihnen zu entschuldigen;
3. die damaligen Geschehnisse und die psychische wie körperliche Gewalt an Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich in einer Studie aufzuarbeiten und dabei insbesondere die Rolle der Jugendämter im Land Bremen bei Einweisung und nach Rückführung der Kinder und Jugendlichen zu beleuchten;
4. unabhängig von der Novelle des Opferentschädigungsgesetzes auf Bundesebene und einer Fondslösung allen Opfern im Land Bremen eine angemessene Landesentschädigung zu zahlen, die die Finanzierungslücke schließt und nach vielen Jahren die Menschen endlich schnell und unbürokratisch erreicht;
5. die betroffenen Menschen zur Bewältigung von Traumata bei notwendigen professionellen Therapien fachlich und finanziell zu unterstützen;
6. aus der Vergangenheit entsprechende Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen und dafür das Casemanagement (Vorgesetzte und Casemanager) in der Kinder- und Jugendhilfe so zu ertüchtigen, dass alle quantitativen und vor allem qualitativen Erfordernisse erfüllt werden können zum Wohle der in stationären Einrichtungen lebenden Kinder und Jugendlichen;
7. mehr Transparenz über die Lebens- und Versorgungsumstände in den stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe im Land Bremen herzustellen und hierzu eine wissenschaftliche Studie zu den heute praktizierten intensivpädagogischen Konzepten und deren Umsetzung extern zu vergeben, bei der vor allem die Kinder und Jugendlichen selbst zu Wort kommen müssen.
Beschlussempfehlung: Sandra Ahrens, Heiko Strohmann und Fraktion der CDU
REAKTION des BREMER SENATS auf den CDU-DRINGLICHKEITSANTRAG
Erfahrenes Leid anerkennen – Solidarität mit den geschädigten früheren Heimkindern
BREMISCHE BÜRGERSCHAFT Land 20. Wahlperiode 11. Oktober 2022, Dringlichkeitsantrag der Fraktionen DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hier pdf zum Download)
Ab dem Jahr 2012 wurden sukzessive Missstände in den teilweise geschlossenen Haasenburg-Heimen in Brandenburg und den Friesenhof-Heimen in Schleswig-Holstein unter anderem durch Presseberichte bekannt, die Heime wurden schließlich 2013 und 2015 geschlossen. In beiden Institutionen wurde auf bedingungslose Unterordnung gesetzt, die mit Zwang, Herabwürdigung, zum Teil mit körperlicher Gewalt, zum Teil mit wochenlangem Freiheitsentzug in „Einzelhaft“ durchgesetzt wurde. Einige der Betroffenen selbst gehen und gingen mit ihren leidvollen Erfahrungen an die Öffentlichkeit und auch Psycholog*innen, die die Langzeitfolgen von betroffenen Kindern und Jugendlichen untersuchten, stellten zum Teil andauernde schwere traumatische Belastungen fest.
Auch Bremer Kinder und Jugendliche wurden in den genannten Einrichtungen untergebracht, wenngleich nicht bis zur behördlichen Schließung. Die notwendige Aufarbeitung der Vorgänge, die zur dortigen Unterbringung und dem zugefügten Leid führten, wurde mit der von den Fraktionen DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen und der SPD an den Senat gerichteten Großen Anfrage angestoßen und bedarf nun einer Fortführung durch eine extern durchzuführende Studie.
Das Bundesland Bremen hat sich aktiv eingebracht in die Aufarbeitung des Leids der so genannten Heimkinder der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre und hat die Einrichtung der Stiftung Anerkennung und Hilfe unterstützt. Doch auch nach 1975 hat es geschlossene Jugendheime und Jugendhilfeeinrichtungen gegeben, deren pädagogische Ansätze oder Alltag geprägt waren von psychischer und körperlicher Gewalt. Den Betroffenen, auch aus Bremen, fehlt bis heute die politische Anerkennung des durch die öffentliche Unterbringung erlebten Leids, eine umfassende Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen sowie eine angemessene Entschädigung. Eine Entschädigung gibt es anders als für die früheren „Heimkinder“ nicht.
Auch auf Basis des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) ist es nicht möglich, eine Entschädigung aufgrund erlittener psychischer Gewalt zu erhalten. 2024 wird das OEG in das neue Sozialgesetzbuch XIV (SGB XIV) überführt, ab diesem Zeitpunkt wird auch eine Entschädigung aufgrund psychischer Gewalterfahrung möglich sein. Eine Entschädigung für vor 2024 zugefügte psychische Gewalt ist derzeit höchst unwahrscheinlich.
Es ist überfällig, dass das Leid der Betroffenen anerkannt wird, dass Behörden aktive Unterstützung anbieten und das soziale Entschädigungsrecht so angepasst wird, dass die zeitliche Lücke in der Entschädigung von Heimkindern zwischen 1975 und 2024 geschlossen wird.
Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:
Beschlussempfehlung:
Die Bremische Bürgerschaft sieht und erkennt erlittenes Leid, das die Kinder und Jugendlichen in den Jugendeinrichtungen der Haasenburg und des Friesenhofs erfahren haben, und bedauert dies zutiefst. Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf,
die individuellen und strukturellen Umstände und Folgen der Unterbringung in den geschlossenen oder intensivpädagogischen Jugendheimen Haasenburg und Friesenhof durch eine extern zu beauftragende Studie weiter aufzuarbeiten;
sich in der Jugend- und Familienminister*innenkonferenz (JFMK), bei den beteiligten Bundesländern und auf Bundesebene für die Schließung der Schutzlücke für die ehemaligen Heimkinder, die nach dem durch die Stiftung Anerkennung abgedeckten Zeitraum und vor Inkrafttreten der Opferentschädigungsgesetz-Novelle untergebracht waren, einzusetzen. Denkbar hierfür wäre z.B. eine Fondslösung oder eine Berücksichtigung im SGB XIV;
dafür Sorge zu tragen, dass den Betroffenen, sofern möglich, direkt oder über die Öffentlichkeit durch die zuständigen Behörden Gesprächsangebote unterbreitet werden.
Sofia Leonidakis, Nelson Janßen und Fraktion DIE LINKE Petra Krümpfer, Birgitt Pfeiffer, Jasmina Heritani, Mustafa Güngör und Fraktion der SPD Sahhanim Görgü-Philipp, Björn Fecker und Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN
Tageszeitung vom 12. Oktober 2022 berichtet über die nun in Bremen beginnende Debatte um echte Opferentschädigung und weitere KONSEQUENZEN AUS DEN HEIMSKANDALEN
Kaija Kutter hat in ihrem Beitrag in der TAZ vom 12.10.2022 (Hier pdf Download) Bezug genommen auf den oben dokumentierten Dringlichkeitsantrag der CDU vom 11.10.2022 und die unmittelbare Reaktion des Bremer Senats (SPD/Grüne PdL) mit einem eigenen Dringlichkeitsantrag. Wir befinden uns bereits im Vorwahlkampf zur Bremischen Bürgerschaft (Wahltermin Mai 2023).
Die nun aus Bremen kommende Opferentschädigungsinitiative sollte eine Vorlage für Initiativen anderer Bundesländer sein, mit dem Ziel der Schaffung A. eines Fonds für die Betroffenen oder B. (besser noch) der Berücksichtigung der berechtigten Opferinteressen auch in der zeitlichen „Schutzlücke“ der Jahre 1975 bis 2023 im neuen Sozialgesetzbuch (SGB) XIV, das ab 2024 gelten soll.
TAZ: “Der Bremer Senat solle nun nicht nur eine externe Studie in Auftrag geben, um die konkreten Umstände und Folgen der Unterbringung in Haasenburg und Friesenhof weiter aufzuarbeiten. Im Gespräch dafür ist eine Kulturwissenschaftlerin, die bereits zur Heimerziehung in der NS-Zeit forschte. Der Senat soll sich auch auf der Jugendministerkonferenz dafür stark machen, besagte „Schutzlücke“ zu schließen …”.
Die gerade mal sechs Monate alte Mitteilung des Bremer Senats vom 26. April 2022 sah demgegenüber lediglich eine “Bewertung und kritische Aufarbeitung der Maßnahmen in geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen” vor. Die CDU kommentierte das folgendermaßen: “…hier schiebt der Senat die Verantwortung bis heute weit von sich. Aktuelle Fragen nach erlebtem Leid in den Einzelfällen und nach Langzeitschäden bei den Betroffenen beantwortet der Senat mit Nichtwissen. Es lägen kaum Kenntnisse darüber vor und offensichtlich ist man nicht bemüht, diese zu erlangen und auf die heute Erwachsenen demütig zuzugehen. Alle bisher vorliegenden Erkenntnisse speisen sich aus Untersuchungsberichten, die eben nicht von Bremen initiiert und durchgeführt wurden. Noch nicht einmal sind Aussagen von oder zu Kindern und Jugendlichen aus Bremen in den Berichten enthalten, wie wir aus der Drucksache 20/1436 erfahren.”
Noch ungeklärt bleibt leider weiterhin, wie denn nun vermieden werden soll, dass aktuell und zukünftig überhaupt solches Leid innerhalb des Kinder- und Jugendhilfesystems entstehen kann.
CDU: “Allein im Jahr 2021 wurden an den Familiengerichten des Landes 152 Anträge auf geschlossene Unterbringung gestellt; aktuell müssen nahezu 957 Bremer Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen abseits familiärer Bindung leben. Über die Lebensumstände dieser Minderjährigen und Schutzbefohlenen liegen uns nur sehr wenige Erkenntnisse vor. Einzelfälle von Kindeswohlgefährdung ließen auch in den vergangenen Jahren immer wieder aufhorchen. Hier braucht es auch gegenwärtig mehr gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit, mehr Transparenz über die Lebensumstände hinter Heimtüren.”
Auszug: “Eingriffsorientierte Maßnahmen, Sorgerechtsentzüge, Heimunterbringungen (zu 2/3 außerhalb Bremens) und Psychiatrisierungen wurden in den letzten 20 Jahren überproportional ausgeweitet. Bremen hat bundesweit einen traurigen Spitzenplatz in Sorgerechtsverfahren und -entzügen, und das vor dem Hintergrund einer massiven Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Kinder, Jugendlichen und Familien – besonders in der Armutshochburg Bremen. Im maßgeblichen Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) sind viele alltagsorientierte, subjektorientierte, sozialraumorientierte und lebensweltorientierte Herangehensweisen verankert. – Leider ist die aktuelle Handlungsrealität in den Kommunen oftmals eine ganz andere. Statt mithilfe einer stabilisierenden und sozialen Infrastruktur den betroffenen Menschen Entlastung und Stabilisierung anzubieten, werden ausgerechnet offene, präventiv wirkende Einrichtungen kaputtgespart. – Diese Aufgaben müssen aber mit einer auskömmlichen und dauerhaften Regel- und Grundfinanzierung gestärkt werden !”
“In der Klinik wird das dramatische Schicksal und die Schwere der Störungen bei Tom offensichtlich. Selbst die Ärztinnen und Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger in der geschlossenen Abteilung sind überfordert mit ihm. Sie stecken ihn wochenlang in einen sogenannten Time-Out-Raum, mit Wänden aus Gummi. Das soll ihn vor sich selbst, aber auch die Mitarbeiter schützen. Sie trauen sich kaum in seine Nähe.” (Hervh. d.V.)
Professor Menno Bauman von der Fliedner Hoschschule Düsseldorf kommt in dem Bericht als Experte zu Wort: “Wir haben keine schnellen Eingreiftruppen, wir haben keine intensiv pädagogischen – oder in diesem Fall intensivst pädagogischen – Notfallaufnahmeplätze. Sondern jetzt muss man lange, lange gucken, wann hat irgendwo in Deutschland jemand Kapazitäten frei, um sich so einem Problem zu stellen.” Baumann schätzt, dass es bundesweit zwischen 100 und 120 solcher extremen Fälle gibt.
Die zuständige Sozialsenatorin Stahman wird in “buten un binnen” wie folgt erwähnt: “Inzwischen sind die Eltern wohl bereit, das Sorgerecht abzugeben. Das ist auch ein Teil des Problems: Der Elternwille wird in Deutschland sehr hoch gehalten. Das Sorgerecht kann nur gerichtlich entzogen werden. Das Sozialressort von Anja Stahmann (Grüne) will jetzt prüfen, ob der zuständige Case Manager in Toms Fall zu spät reagiert hat. Und damit auch seine Entwicklung und sein Kindeswohl gefährdet hat. Der Sprecher der Senatorin, Bernd Schneider sagt: “Der Fall wird im Detail aufgearbeitet und bewertet.”“
Der Bremer Senat (Bündnis 90/Die Grünen-SPD-DIE LINKE) hat am 26.April 2022 eine “Bewertung und kritische Aufarbeitung der Maßnahmen in geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen” vorgelegt. Bei den Fragen 11 und 12 und 13 ist die Antwort interessant und aktuell: Wie viele Anträge auf mit Freiheitsentziehung verbundener Unterbringung nach § 1631b BGB (§151 Nr. 6 FamFG) und § 151 Nr. 7 FamFG wurden seit dem Jahr 2016 beim Familiengericht gestellt (bitte aufschlüsseln nach Jahren)?
Zwischen 2016-2021 schwankten die “Fallzahlen” zwischen 98 und 122 jährlich nach § 151 Nr. 6 FamFG. Zwischen 2016-2021 liegen die durchschnittlichen jährlichen “Fallzahlen” bei 17 nach §151 Nr. 7 FamFG. In vielen Fällen hätte es sich um Unterbringungen in der Jugendpsychiatrie gehandelt. (Diese werden dann nicht aufgeschlüsselt und benannt. d.V.)
“Vielfach handelt es sich um Anträge auf geschützte Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hintergrund der freiheitsentziehenden Unterbringung sind dann häufig klinische Krankheitsbilder.” … “Durch das Gesetz zur Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehalts für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern wurde am 01. Oktober 2017 neben dem bereits bestehenden Genehmigungsvorbehalt in § 1631b BGB für die freiheitsentziehende Unterbringung eines Kindes nun ein solcher in einem neuen § 1631b II BGB auch für andere freiheitsentziehende Maßnahmen, wie etwa Fixierungen, medikamentöse Sedierung etc. eingeführt. Seit 2019 zeigt sich ein Anstieg der Beschlusszahlen, der sich mit dieser Gesetzesnovelle begründen lässt.”
Online-Veranstaltung: Vortrag & Diskussion zum Rechtsgutachten „Freiheitsentziehende Maßnahmen und geschlossene Unterbringung nach § 1631b BGB in der Kinder- und Jugendhilfe“ am 28.09.2022
Immer wieder gibt es in der Kinder- und Jugendhilfe Diskussionen um freiheitsentziehende Maßnahmen und geschlossene Unterbringungen. – Aber inwiefern sind solch massive Eingriffe in die Freiheitsrechte junger Menschen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe rechtlich überhaupt zulässig? Und unter welchen Voraussetzungen sind sie es nicht? Wie können Betroffene gegen Freiheitsentzug in der Kinder- und Jugendhilfe vorgehen?
In dieser Online-Veranstaltung wird Prof. Dr. jur. Janssen wesentliche Inhalte aus ihrem Rechtsgutachten „Freiheitsentziehende Maßnahmen und geschlossene Unterbringung nach § 1631b BGB in der Kinder- und Jugendhilfe“ vorstellen.
Während der Fachtagung “Wenn Du nicht brav bist, dann kommst Du ins Heim” am 04.03.2022 in der HAW Hamburg wurden in einem Workshop zur geplanten Einrichtung in Hamburg “am Klotzenmoorstieg” Alternativen diskutiert, die das Thema geschlossene Unterbringung obsolet machen.
“Wenn wir es schaffen, schon vorhandene gute Soziale Arbeit für herausfordernde Kinder weiter zu etablieren bzw. die schon vorhandenen, in Einzelfällen erfolgreichen Interventionen zu einem Gesamtkonzept auszubauen, wird geschlossene Unterbringung hinfällig. Schon im Workshop wurden hier gute Ideen benannt, wie die belasteten Beziehungen von Jugendlichen mit Betreuern in konkreten Stresssituationen entlastet werden können, als Stichwort wurde der Begriff Jugendhotel genannt, in dem Junge Menschen zeitweise quasi „Urlaub“ von den Betreuern machen können und umgekehrt. Es ist, mindestens im Kontext Gewaltprävention bereits gängige Praxis, hoch auffälligen Jugendlichen Soziale Arbeit anzubieten, statt sie wegzuschließen. So konnten verschiedene Kinder durch das Zusammenwirken von Fachleuten wieder in Regelsysteme integriert werden, ohne Zwang auszuüben. Wichtig ist der Aspekt, dass die betroffenen Kinder nicht Schuld sind an ihrer widerständigen Art, sondern das der Widerstand eine im Grunde ganz normale, gesunde Antwort auf nicht vorhandene oder ambivalente Bindungen zu den oft getrennten, mit Sucht- oder Gewaltproblematiken beladenen Eltern und z.T. jahrelangen Beziehungsabbrüchen im Hilfesystem sind. Soziale Arbeit muss hier an den (noch) vorhandenen Ressourcen ansetzen, muss Beziehungen anbieten und halten. So kann es sinnvoll sein, einem Kind oder Jugendlichen unabhängig von seinem Wohnort eine Betreuer*in an die Hand zu geben, der/die den jungen Menschen auch dann weiter betreut, wenn es wieder zu einem Abbruch oder Unterbrechung der Unterbringungsform kommt. Diese*r kann dann als „roter Faden“ der Verlässlichkeit im Hilfesystem agieren.”
… “Energie, Konzepte und Geld sollten in die Wiederherstellung tragfähiger sozialer Strukturen fließen statt in den teuren Neubau eines fachlich unsinnigen Projekts.”
Dieser kurze Fernseh-Beitrag im NDR (Hamburg Journal) am 18. April 2022 berichtet über die Planungen des Hamburger Senats, eine neue Einrichtung Am Klotzenmoorstieg im Hamburger Stadtteil Groß Borstel an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Psychiatrie zu errichten, in der mit freiheitsentziehenden Maßnahmen gearbeitet werden soll.
Im NDR-Beitrag kritisiert u.a. Christian Schrapper diese Pläne der Hamburger SPD/Grünen Koalition: “Dass nun die momentane Koalition auf die Idee kommt, eine baulich geschlossene Einrichtung in Hamburg zu errichten, da kann ich schwerlich entdecken, dass sie Anschluss nimmt an zentrale Ergebnisse der Enquete-Kommission.”
Exposition „Taktik bedeutet, das zu tun, was man kann, mit dem, was man hat. In der Welt des Gebens und Nehmens ist Taktik die Kunst des richtigen Gebens und Nehmens. Wir wollen uns hier mit der Taktik des Nehmens beschäftigen, nämlich wie die Ausgebeuteten den Herrschenden und Besitzenden Macht nehmen. Um ein wenig zu veranschaulichen, was Taktik ist, wollen wir das Gesicht nehmen (…). Zunächst die Augen: Wenn man eine (..) mitgliederstarke Basisorganisation aufgebaut hat, kann man damit sichtbar vor dem Gegner protzen und offen die eigene Macht demonstrieren. Nun die Ohren: Falls die Organisation noch klein sein sollte, muss man das tun, was Gideon tat – verheimliche die Zahl der Mitglieder, aber versuche einen Lärm und ein Geschrei, dass die Zuhörer glauben, deine Organisation sei größer, als sie tatsächlich ist. Schließlich die Nase: Falls deine Organisation zu klein sein sollte, um Krach zu schlagen, verbreite überall einen Gestank wie die Pest. Erinnere dich immer an die erste Regel der Machttaktiken: Macht ist nicht nur das, was du besitzt, sondern das, von dem der Gegner meint, dass du es hast.“ (von Saul Alinsky, Call Me A Radical S.158)
Konfrontation „Als ich drei Tage fixiert war, war es schlimm für mich. (…) Sie wollten mich brechen. Ich wehrte mich. Nach dem ersten Tag war ich noch bockig. Die Erzieher kamen immer mal wieder rein und haben versucht, Macht zu demonstrieren. Ich hatte Hunger. Ich beleidigte sie, als das, was sie waren, Monster. Am zweiten Tag war der Hunger so schlimm, dass ich teilweise nachgab. Sie ließen eine Hand frei, damit ich essen konnte. (…) Sie verlangten Zwangssport. Ich weigerte mich. Sie halfen mir nach, um erzwungene Kniebeuge zu simulieren. Ich ließ mich auf den Boden fallen. Ich schrie sie an, sie sollen mich nicht anfassen. Ich trat nach den Erziehern. Ich wurde wieder fixiert. Sie eskalierten die Situation (…) so oft, dass ich nicht genau beziffern kann, wie oft ich fixiert und defixiert wurde. In den drei Tagen war ich ungefähr zwölf Stunden nicht fixiert gewesen. (…) Es war ein Marathon.“ (Renzo, in: Dressur zu Mündigkeit, S. 69)
Stufe 0: „Ein Hangaround (…) muss um 20 Uhr im Haus sein (…). Der Jugendliche (..) darf keine Heimfahrt antreten. Der Kontakt zu der Familie wird auf ein Minimum begrenzt (…). Stufe 1: „Ein Prospect bekommt abends 100 Gramm Süßes. Voraussetzung (..): 65 Punkte bei der Betreuerwertung der Vorwoche. Ab Stufe 1 kann Exklusivzeit in Anspruch genommen werden.“ Stufe 2: „Ein Prospect First-Class darf (..) ein Mal im Monat bei Externen übernachten. Pflicht um die nächste Stufe zu erreichen: Er muss 10 Stunden für die Gruppe arbeiten.“ Stufe 3: „Als Würdigung (..) der Tatsache, dass ein Jugendlicher die Stufe 3 Member erreicht, findet ein Essen mit allen (..) in einem Restaurant statt. Dabei werden (..) im feierlichen Rahmen eine Urkunde, ein Geschenk mit Gravur und ein symbolischer Schlüssel übergeben.“ (aus dem Konzept des Jugendhof Pohl Göns e.V.)
Auflösung „Die Kritik der [Geschlossenen Unterbringung] endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (Frei nach Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; MEW 1, S. 385)
Abspann In Hessen gibt es eine geschlossene Unterbringung und viele Einrichtungen, die in Graubereichen agieren. Wir als Regionalgruppe wollen über folgendes sprechen: Eine Sozialpädagogik, • die Kinderrechte stärkt, • die ohne Zwang und Unterdrückung auskommt, • die Mitbestimmung und dialogisches Aushandeln fokussiert, • die mit einer offenen Fehlerkultur an weniger erfolgreichen Verläufen gemeinsam lernen lässt. Wir wünschen uns ein Kinder- und Jugendhilfesystem, das die Stärken regionaler Kooperation und Vernetzung aufweist – Einfach, um zu schauen, wo es noch hingehen könnte.