TAZ vom 19.6.2017

Kinder stärken statt den Staat

Kinder- und Jugendhilfe Die geplante Reform ist eine beispiellose Verschlimmbesserung. Die Warnungen der Fachwelt werden ignoriert

von Wolfgang Hammer taz – Meinung + Diskussion – Seite 12 am 19.6.2017

Die Fachwelt kämpft seit August 2016 in großer Einigkeit gegen eine familienfeindliche Sparreform der Kinder- und Jugendhilfe, die die Rechte der Betroffenen schwächen und die Eingriffsrechte des Staates stärken will. Diese Reform wird das Gegenteil dessen bewirken, was sie verspricht.

Unter dem Namen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sollen Rechtsansprüche auf Hilfen zur Erziehung eingeschränkt, Leistungen für junge Erwachsene abgebaut und Eingriffe in das Sorgerecht und die dauerhafte Unterbringung in Heimen erleichtert werden. Damit würde die schon bestehende Schieflage, dass es immer weniger präventive Hilfen und immer mehr Eingriffe in Familien gibt, noch erheblich verschärft.

Schon jetzt ist die Situation desolat: So sind allein von 2006 bis 2015 über 3.200 Jugendhäuser, Abenteuerspielplätze und Spielmobile, die gerade für Familien in Deutschlands Armutsre­gionen eine wichtige Alltagsentlastung darstellen, eingespart worden. Gleichzeitig steigt die Zahl der Sorgerechtsentzüge und Inobhutnahmen von Jahr zu Jahr. Dabei hat das System gerade hier eine Schwäche: Fast jede zweite Unterbringung in Heimen und Pflegefamilien muss ungeplant beendet werden. Die Verweildauer in Heimen hat sich von durchschnittlich 27 auf 20 Monate, die in Pflegefamilien von 50 auf 40 Monate verkürzt.

Kritik am Familienministerium

Eine Unterstützung von überforderten Familien ist alternativlos und muss daher im Zentrum einer Reform stehen, wenn nicht noch mehr Kinder in Heimen landen sollen. Doch statt diese Hilfe zu stärken, soll künftig schon zu Beginn eine auf Dauer ausgerichtete Perspektivklärung erfolgen, also zum Beispiel eine dauerhafte Heimunterbringung ohne Option zur Rückkehr in die Herkunftsfamilie. Die hohe Kinderarmut spielt in dieser Reform keine Rolle und wird auch nicht benannt, obwohl sie einer der Hauptgründe für Hilfebedarfe ist.

Betroffen von dieser Reform sind rund 4 Millionen Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern, etwa 800.000 hauptamtliche Fachkräfte und Hunderttausende ehrenamtliche Mitarbeiterinnen. Heute soll es nun in der vom Familienausschuss des Bundestags veranstalteten öffentlichen ExpertInnenanhörung zu einer Abrechnung der Fachwelt mit dem Gesetzentwurf kommen.

Der Widerstand gegen diese Reform beschränkt sich inzwischen längst nicht mehr nur auf die Fachleute. Nachdem die Bedenken gegen die Reform inzwischen auch bei den Jugendämtern und freien Trägern angekommen sind, haben sich die beiden großen Gewerkschaften dem Protest angeschlossen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) haben inzwischen erklärt, dass sie das Gesetz ebenfalls ablehnen. Die GEW hat die Abgeordneten des Bundestages aufgefordert, der Reform nicht zuzustimmen.

CDU und Linke haben sich die Argumente der Fachwelt zu eigen gemacht und kämpfen nun gemeinsam gegen die Reform oder zumindest gegen wesentliche Teile. Bündnis 90/Die Grünen haben einen Antrag eingebracht, der in Übereinstimmung mit der Fachwelt darauf abzielt, die Hilfen für junge Erwachsene zu verbessern.

Aus diesem breiten Widerstand kann geschlossen werden kann, dass gegen das geplante Kinder- und Jugendstärkungsgesetz insgesamt Vorbehalte bestehen, auch wenn zum KJSG keine Stellungnahme abgegeben wurde. Selbst die SPD-Fraktion leidet darunter, vom Familienministerium nie ernsthaft in den Reformprozess eingebunden worden zu sein. So haben viele Abgeordnete den Protest oft erst in ihren Wahlkreisen zu spüren bekommen und die Informationen häufig über das Internet erhalten – nachdem sie dort schon kommentiert wurden.

Die Entstehungsgeschichte des KJSG ist ein Lehrstück organisierter Unverantwortlichkeit von Bund, Ländern und Kommunen. Die hehren Reformziele passen nicht zu den Machtfantasien von staatlicher Steuerung. Dazu kommt noch die gegenseitige Schuldzuweisung, wenn es um die Finanzierungsfolgen geht. Das Chaos wird auch deutlich an den über 50 ­Änderungsanträgen des Bundesrates und den Stellungnahmen von Kommunen und Ländern sowie der Reaktion der Bundesregierung.

Dass vor diesem Hintergrund das Licht der Öffentlichkeit gescheut wurde, verwundert nicht. Gerade bei der wichtigen Zukunftsfrage, wie Familien mit geringem Einkommen besser gefördert werden können, wie Ausgrenzung und Bildungsbenachteiligung entgegengewirkt werden kann, braucht es ein Zusammenwirken von Politik und Fachwelt – so wie dies bisher auch gute Tradition war.

Nun auch Wahlkampfthema

Die Benachteiligung von Kindern auszugleichen ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben

Als junger Mensch war für mich der Aufruf von Willy Brandt, „Mehr Demokratie wagen“, ein zeitloser Anspruch an die Gestaltungsprozesse in der parlamentarischen Demokratie. Eine Politik der Hinterzimmer und der gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und die Angst vor dem Diskurs mit Fachleuten und Betroffenen ist für mich deshalb nicht vereinbar mit demokratischen Ansprüchen.

Ein Ergebnis dieses Prozesses ist allerdings, dass nun die gesamte Fachwelt, der Gewerkschaften und Fachverbände so politisiert sind, dass es in die nächste Legislaturperiode hineinwirken wird.

Die lokalen und regionalen Bündnisse werden das Thema auch im Bundeswahlkampf zu einem zentralen Thema machen. Sie erwarten unabhängig vom Ausgang der politischen Entscheidung zum KJSG einen Neustart, der sich auch im Koalitionsvertrag und im Regierungsprogramm niederschlägt. Wer glaubt, man könne Gerechtigkeit zum Wahlkampfthema machen, ohne die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe und die Kinderarmut ernsthaft in Angriff zu nehmen, wird scheitern.

Es ist an der Zeit, Vertrauen in die politische Kultur von Reformprozessen zurückzugewinnen. Es ist an der Zeit, dass Reformen verbessern und nicht verschlechtern. Und es ist an der Zeit, nach der Bundestagswahl eine Enquetekommission im Deutschen Bundestag einzurichten, in der die Eckpunkte einer Reform der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam mit der Fachwelt erarbeitet werden.

Wolfgang Hammer

Foto: Miguel Ferraz

Jahrgang 1948, ist promovierter Soziologe, ehemaliger Abteilungsleiter der Jugendhilfe Hamburg und Lehr­beauftragter an der Staatlichen Fachhochschule Köln. Er war außerdem von 2005 bis 2013 Kokoordinator für Kinder- und Jugendpolitik der Länder.

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Regeln für Zwangsmaßnahmen (taz, 19.5.2017)

Ethikrat zu Jugendhilfe

Regeln für Zwangsmaßnahmen

Der Ethikrat befasste sich mit einer Debatte, die bisher keine öffentliche Bühne fand – dem
„wohltätigen Zwang“ in der Jugendhilfe.

Mit Eile, so schien es, versuchen CDU und SPD noch vor den Neuwahlen ein umstrittenes Gesetz durchzubringen, das Zwangsmaßnahmen, wie Fixierungen oder räumliche Isolierung bei Kindern und Jugendlichen regelt. Doch jetzt setzt sich zumindest die SPD dafür ein, dieses Gesetz in einer öffentlichen Anhörung zu diskutieren, bei der auch die Kritiker zu Wort kommen sollen. Weiterlesen

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Wohin mit Hamburgs kriminellen Jugendlichen? (Hamburger Abendblatt, 19.4.2017)

Artikel und Kommentar im Hamburger Abendblatt vom 19.4.2017

Quelle: http://www.abendblatt.de/hamburg/article210305173/Wohin-mit-Hamburgs-kriminellen- Jugendlichen.html

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Der Jugendhilfe-Bumerang (taz, 6.7.2017)

TAZ-Beitrag von Katja Kutter vom 6.7.2017

Kritik an Gesetzentwurf zu Fesselung

Der Jugendhilfe-Bumerang

Hamburger Professoren wollen ein Bundesgesetz stoppen, das körperliche Zwangsmaßnahmen in Heimen legalisiert. Eigentlich ist es dafür aber fast schon zu spät.

HAMBURG taz | So gut wie verabschiedet ist eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), die erstmals Fesselungen und andere Zwangsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen regelt. Nun gibt es den aus Hamburg initiierten Appell „Kein Fesseln auf Antrag in der Kinder- und Jugendhilfe!“, der das Gesetz in dieser Form stoppen soll. „Wir sehen zwar die gute Absicht“, sagt Professor Michael Lindenberg von der Evangelischen Hochschule für Sozialarbeit, „aber wir befürchten, dass dieses Gesetz eine sehr problematische Praxis in Heimen legitimiert.“ Weiterlesen

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Kein Fesseln auf Antrag der Kinder- und Jugendhilfe (Stellungnahme Aktionsbündnis + IGfH)

KEIN FESSELN AUF ANTRAG DER KINDER- UND JUGENDHILFE

STELLUNGNAHME DES AKTIONSBÜNDNISSES GEGEN GESCHLOSSENE UNTERBRINGUNG UND DER INTERNATIONALEN GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHERISCHE HILFEN (IGFH) ZUM GESETZESVORHABEN ZUR EINFÜHRUNG EINES FAMILIENGERICHTLICHEN GENEHMIGUNGSVORBEHALTS FÜR FREIHEITSENTZIEHENDE MAßNAHMEN BEI KINDERN

Im Schatten der Debatten um die Reform des SGB VIII wurde im Bundestag relativ unbemerkt von der Fachöffentlichkeit und ohne Beteiligung der Jugendhilfe ein Gesetzentwurf zur Änderung von § 1631b BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) beschlossen worden, der nun im parlamentarischen Verfahren ist:
Mit dem Gesetzesvorhaben soll das unbestreitbar bestehende Problem geregelt werden, dass das Kindschaftsrecht für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Minderjährigen – anders als das Betreuungsrecht für Volljährige – keine gerichtlichen Genehmigungserfordernisse vorsieht und daher in diesem Graubereich freiheitsentziehende Maßnahmen stattfinden. Das klingt zunächst vernünftig. Die Regelungen bedeuten aber auch, dass freiheitsentziehende Maßnahmen grundsätzlich dann zulässig sein sollen, wenn sie „zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich” sind. Der weit gefasste Begriff des Kindeswohls könnte das Tor eröffnen für eine Vielfalt von Fallkonstellationen für freiheitsentziehende Maßnahmen. So erfolgt eine breite Legitimierung, weil sie einen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zulässig sind.
Wir und weitere Mitstreiter_innen sprechen sich hingegen klar für ein umfassendes Verbot solcher Maßnahmen aus (ausführlicher: siehe Stellungnahme). Wir haben daher gemeinsam mit der IGFH eine Stellungnahme dazu verfasst (s.u.), die bereits von zahlreichen Personen und Institutionen unterzeichnet wurde.

Weitere Unterzeichner_innen (Personen und Institutionen) können noch aufgenommen werden – Kolleg_innen, die die Stellungnahme noch unterzeichnen möchten, schreiben bitte eine entsprechende E-Mail an:

tlutz[at]rauheshaus.de

Die Stellungnahme wird in geeigneter Weise dem Bundestag übermittelt.

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Schlussfolgerungen des Abgeordneten Wolfgang Dudda (Piraten) zum PUA Friesenhof

Schlussfolgerung Dudda vom 18.3.2017

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Heimlich geschlossen / TAZ 17.03.2017

Der PUA-Untersuchungsbericht zur Schließung des Friesenhofes in Schleswig-Holstein steht jetzt im Netz zum Download. Siehe den TAZ-Artikel dazu:

taz 17.3.17 Heimlich geschlossen – PUA Untersuchungsber.

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Radio Bremen: Aus für geschlossenes Heim

Radio Bremen: 21. Februar 2017, 20:07 Uhr

Aus für geschlossenes Heim – Landesregierung macht Rolle rückwärts

SPD und Grüne in Bremen wollten straffällig gewordene jugendliche Flüchtlinge eigentlich in einem geschlossenen Heim unterbringen. Doch jetzt macht der Senat eine Rolle rückwärts und setzt eher auf Abschiebung. Auch Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) hält ein geschlossenes Heim für verzichtbar.
„Diese harten Jungs könne man nicht mit sozialpädagogischen Konzepten einfangen“, sagte Sieling im Gespräch mit Radio Bremen. Diese Jugendlichen gehörten in Haft oder ausgewiesen, so der Bürgermeister weiter.
Deswegen will der Bremer Senat das geplante Heim für minderjährige kriminelle Flüchtlinge im Blockland nun nicht mehr bauen. Außerdem haben sich mehrere Bremer Träger jetzt doch bereit erklärt, mit jungen Intensivtätern pädagogisch zu arbeiten. Ein Heim, in dem diese eingesperrt werden, ist demnach nicht mehr nötig.

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taz: Kein Heim für Flüchtlingskinder

TAZ vom 21.02.2017

Geschlossenes Heim in Bremen

Kein Heim für Flüchtlingskinder

Weil es kaum noch Bedarf gibt, hat sich nach den Grünen auch die SPD von dem Heim verabschiedet. Nur noch die CDU ist für das Konzept.

Der Schatten einer Zellenwand und eines Inhaftierten auf Beton

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden in Bremen nun doch nicht weggesperrt Foto: dpa

BREMEN taz | Bremen wird keine geschlossenen Unterbringung für geflüchtete Jugendliche bauen. Darauf haben sich SPD und Grüne jetzt verständigt – und damit ihren Koalitionsvertrag revidiert. Kommende Woche wird der Senat die Pläne für ein solches Heim wohl offiziell beerdigen.

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Weser Kurier: Diskussion um geschlossene Unterbringung

Weser Kurier vom 13.02.2017

Diskussion um geschlossene Unterbringung

Kathrin Aldenhoff 13.02.2017

Jugendhilfeeinrichtung an der Grenzpappel © Christina Kuhaupt

Im Fitnessraum trainieren die Jungs immer gemeinsam mit einem Betreuer. Für Marco ist das Training eine Möglichkeit, seine Aggressionen loszuwerden, sagt er. (Christina Kuhaupt)

Sie sind auf die harten Jungs eingestellt. Genau die sind ihre Zielgruppe hier, die sogenannten Systemsprenger. Nach mehreren Monaten in der neuen Einrichtung in Hemelingen sollen sie ihr Leben wieder im Griff haben. Wieder den geraden Weg gehen, von dem sie teilweise schon vor Jahren abgekommen sind. Oder auf dem sie noch nie waren. Marco* zum Beispiel flog erst Zuhause raus, dann aus einer Wohngruppe der Jugendhilfe.

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